Überfall auf Israel:240 Stühle warten auf dem Münchner Marienplatz auf die Entführten

Lesezeit: 2 min

An der leeren Schabbat-Tafel werden aus abstrakten Zahlen sichtbare Schicksale. (Foto: Stephan Rumpf)

Mit einer stillen Aktion erinnern Jüdinnen und Juden an das Schicksal der von der Hamas verschleppten Menschen. Und beschreiben die Folgen des Krieges auf das jüdische Leben.

Von Bernd Kastner

Der Tisch auf dem Marienplatz ist so lang wie die Rathausfassade. Teller und Weingläser und Stühle nebeneinander, alles in Weiß. Einige Challa-Brote liegen auf den Tischen, sie werden traditionell zum Schabbat gebacken. Der Regen lässt kleine Pfützen auf den Tellern entstehen. Auf einigen stehen diese kleinen Konserven-Gläser, die man gerne Babygläschen nennt. An diesen Plätzen warten keine normalen Stühle, sondern Kinder-Hochstühle. Auf zwei Tellern liegen Rosen, eine rote und eine weiße. Kein Mensch sitzt auf den Stühlen. Auf ihren Rückenlehnen kleben kleine Plakate, jedes mit Namen und Foto eines Menschen. Sie wurden aus Israel entführt und sind seit vier Wochen in der Gewalt der Hamas.

Alma Or, 13 Jahre alt, Alon Lulu, 26 Jahre, Hanna Peri, 79 Jahre, Liam Or, 18 Jahre, Raz Katz-Asher, vier Jahre, Avigail Idan, drei Jahre, Kfir Bibas, neun Monate, Inbar Haiman, 27 Jahre, Keith Samuel, 64 Jahre, Aviv Katz-Asher, zwei Jahre, die Familie Brodutch, Hagar, Ofri, Yuval, Oria, vier bis 39 Jahre alt. Es gibt noch viel mehr Namen, es sind 240 Stühle. Name an Name, Bild an Bild - "entführt." Nur auf einigen Stühlen fehlen Name und Foto, man kennt noch nicht alle Verschleppten.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

An diesem Freitag werden an der leeren Schabbat-Tafel aus abstrakten Zahlen - 1400 von der Hamas getötete Zivilisten, Hunderte entführt - sichtbare Schicksale. Viele Passanten bleiben stehen. Organisiert haben die stille Aktion zwei Privatpersonen; sie bitten, ihre Namen nicht zu veröffentlichen, sicherheitshalber. Unterstützt wird die leere Tafel von der Israelitischen Kultusgemeinde, und so steht Yehoshua Chmiel, deren Vizepräsident, für Gespräche zur Verfügung.

Wie es ihm geht angesichts der leeren Tafel? Er verstehe jetzt plötzlich, sagt er, was 1933 losgewesen sein muss. Heute frage man oft: Wie konnte es nur passieren? Auch damals seien nicht alle von heute auf morgen Nazis geworden. Aber die meisten hätten geschwiegen und nichts unternommen, die Empathie habe ihnen gefehlt. Und heute? Was die jüdische Community erlebe an Hass und Übergriffen, sei schlimmer als alles seit der NS-Zeit, sagt Chmiel. "Ich fühle mich im Stich gelassen." Im Stich gelassen von einem Großteil der Bevölkerung. Er nennt zwei Zahlen: Kurz vor der Landtagswahl protestieren 35 000 Menschen gegen rechts; wenige Tage nach dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten sind es 2000, die sich mit Israel solidarisieren.

Als jemand, "der politisch aktiv sein muss" - ja, müsse, weil er jüdischer Deutscher ist -, beobachte er aktuell, wie die Saat derer aufgehe, die seit Jahrzehnten Antisemitismus schürten. Wieder schweige die Mehrheit. "Wer glaubt, dass es nur die Juden betrifft, der wird morgen aufwachen." In Gefahr seien die Demokratie und die Liberalität, sagt Chmiel. Wenn er sehe und höre, dass Menschen, die sich sonst für Klimaschutz, für die Rechte Schwarzer oder für die queere Community engagieren, sich mit Antisemiten gemein machten, dann verstöre ihn das sehr, sagt Yehoshua Chmiel. "Wir müssen aufstehen, Zivilcourage zeigen und für die Ideale und Lebensentwürfe, die wir haben, eintreten."

Der Regen klebt die Decken wie eine Haut an die Tische, die Gläser beginnen sich zu füllen. Am einen Ende der Tafel steht ein Stuhl an der Kopfseite. Er gehört Shani Louk, sie war wochenlang vermisst. Inzwischen weiß ihre Familie, dass die Terroristen die 22-Jährige ermordet haben.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusIsrael
:So geht es den Menschen in Münchens Partnerstadt im Krieg

Täglich fliegen Raketen aus dem nahen Gazastreifen Richtung Be'er Sheva. Eine Psychologin, der Bürgermeister und die Mutter eines entführten Soldaten berichten, wie das Leben dort trotzdem irgendwie weitergeht.

Protokolle von Ulrike Heidenreich

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: