Glockenläuten in Münchner Kirchen:Heiliger Bimbam

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Gerald Fischer liebt den Klang der Glocken, sogar aus wenigen Metern Entfernung. (Foto: Catherina Hess)

Warum läuten die Kirchen mittags oder genau um 15 Uhr? Dürfen die das und wie laut? Der Glockensachverständige Gerald Fischer klärt auf.

Von Philipp Crone

"Jetzt!", sagt Gerald Fischer. Die sechs Tonnen schwere Glocke aus Gussstahl schwingt schon das fünfte Mal hin und her. Der 67-Jährige steht zwei Meter von ihr entfernt im Turm der St.-Albert-Kirche und wartet auf den Aufprall des etwa 250 Kilogramm schweren Klöppels auf die tonnenschwere Glocke. Der Klang der riesigen Kirchenglocke. Ein Akkord, in diesem Fall g-Moll. 80 Dezibel, knapp weniger als ein ausgewachsenes Flugzeug, die manche entzücken - und andere verärgern.

Für manche ist das Glockenläuten der warme, angenehme Klang, der sie schon immer begleitet. Die Faszination Glocke, die kann der Glockensachverständige Fischer genauso erklären wie er auch den Frust mancher Stadtbewohner nachvollziehen kann, die morgens oder abends von minutenlangem Geläut beschallt werden.

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Fischer sagt: "Manche können mit dem Läuten nicht schlafen, manche können es nicht ohne." Er lächelt bei diesem Satz. Vielleicht weil er merkt, dass man sich über den Satz wundert. Jemanden, der wohl endlos lang über das Instrument Glocke sprechen könnte, den freut es, wenn er andere Menschen in den Sog der Glocke hineinzieht. Ob es die Geschichten über die Chinesen sind, die wohl als erste Glocken gossen, heute aber die Preise kaputtmachen. Oder ob es das Wissen über den Hintergrund der vielen liturgischen Läut-Anlässe ist. Und zuletzt hat er auch zwei Lösungen für genervte Stadtbewohner. Die erste lautet: Wissen. Über diesen Gegenstand, der vor 4000 Jahren entwickelt wurde.

In München ist vereinbart, dass in Wohngebieten nachts nicht geläutet wird

Der Kirchenmusiker zuckt nicht, er bewegt sich keinen Millimeter, als der Klöppel mit einem Dröhnschlag auf den Gussstahl trifft. In einer Lautstärke, die Nicht-Glockensachverständige zusammenzucken lässt, obwohl man mit dem Aufprall rechnet. Der Genuss von Glockenklang entfaltet sich wahrscheinlich für den Laien eher nicht in zwei Metern Entfernung, sondern in mindestens 20. Oder gar nicht. Mit ein wenig Wissen kann sich das vielleicht ändern. Aber dann ist da noch die Frage: "Braucht man heute noch Glocken?"

Früher war das natürlich was anderes, sagt Fischer, als er wieder vom Turm gestiegen ist und mit den Utensilien seiner Zunft, einer Stimmgabel und einem besteckgroßen Minihammer an einem Tisch Platz nimmt. "Die Chinesen", sagt der Mann mit den kurzen, lichten Haaren in einer so routinierten Beiläufigkeit, als könne er sämtliche Erkenntnisse über Glocken in einen Satz packen. Bevor Mönche die Geräte für sich entdeckten, hätten die Chinesen sie erfunden, aber auch irgendwann wieder beerdigt. "Das Handwerk ist wahrscheinlich erst einmal ausgestorben, bis die Römer es wieder etablierten und dann auch die ersten Klöster im vierten und fünften Jahrhundert Glocken einsetzten." Damals hatten Glocken noch einen ganz direkten Nutzen.

Mönche wurden durch das Läuten zum Gebet gerufen, "es war ein Signal-Instrument". Am Morgen zur Laudes, am Abend zur Vesper, und da ist man auch sofort wieder im Jahr 2021. Denn noch heute rufen die Kirchen mit Geläut zum Gebet. Das dürfen sie auch, und damit ist man beim Gesetz. "Das liturgische Läuten ist im Grundgesetz geschützt", sagt Fischer. Das bestätigt auch das Gesundheitsreferat auf Nachfrage. "Da gibt es keine Einschränkungen", heißt es vom Referat. Bedeutet, dass eine Kirche zu einem liturgischen Anlass wie dem Gebet theoretisch jederzeit läuten darf. "In München ist aber vereinbart, dass in reinen Wohngebieten zwischen 22 und sieben Uhr nicht geläutet wird", sagt Fischer. Geläutet wird bei den Katholiken auch zur Wandlung während der Messe oder zum Mariengebet am Abend eine Stunde vor Sonnenuntergang. Oder um zum Gottesdienst zu rufen, eine Viertelstunde vor Beginn der Messe.

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Braucht's das noch? "Man kann das alles natürlich hinterfragen", sagt Fischer. Und bei der derzeitigen Situation der Kirche sei es auch angebracht, vieles zu hinterfragen. "Für viele ist das Läuten zur Messe aber eben schon Teil des Rituals." Es gebe einem ein erhabenes, wohliges Gefühl, wenn man vor der Kirche stehe und die Glocken läuten höre. "Dafür reicht es aber auch, wenn man sie fünf Minuten vor Beginn läutet, und nicht 15." Es kämen ja ohnehin viele mit dem Auto, und die hören es dann eh nicht vorher.

Dabei ist es dem Gesetz egal, um welche Religion es sich handelt. Evangelische Kirchen lassen statt zum Angelusgebet zum Betläuten die Glocken schwingen. "Auch der Muezzin in einer Moschee irgendwo in Deutschland kann nach diesem Gesetz seinen Gesang ausüben."

Vieles ist den Kirchen überlassen, den verantwortlichen Pfarrern. In St. Albert ist die Sonntagsmesse um elf Uhr. "Das kann man den Anwohnern dann schon zumuten." Acht Uhr ist was anderes. Aber selbst ein mehrere Minuten langes Geläute mit 80 Dezibel fällt unter die Kategorie kurzzeitiger Lärm. "Wenn ein Kieslaster durch ein Wohngebiet fährt oder ein Flugzeug drüberfliegt, werden auch die zulässigen 50 Dezibel überschritten, aber das ist eben dann als kurzfristig definiert und erlaubt. Das muss man aushalten, sagt der Gesetzgeber." Die Länge von "kurzfristig" ist nicht festgelegt.

In seiner Kirche in Freimann habe es noch nie ein Problem mit Anwohnern gegeben, sagt Fischer. Es gab sogar zuletzt einen Fall in Garmisch, als ein Pfarrer die Stundenschläge in der Nacht abstellen ließ, weil sich ein paar Nachbarn beschwert hatten. Als Folge beschwerten sich dann aber noch viel mehr Nachbarn, ganz andere, die nun nicht mehr schlafen konnten. "Die waren und sind von den regelmäßigen Schlägen so eingenordet, dass sie die richtiggehend brauchen." Und dann gebe es auch noch die Beispiele, dass man zum Beispiel das Sechs-Uhr-Läuten genieße, weil man dann weiß: noch eine halbe Stunde liegen bleiben. Aber er kennt natürlich auch andere Beispiele.

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Manche Pfarreien verzichten mittlerweile auf das morgendliche Angelusläuten. Immer wieder klagen Anwohner, oft kommt ihnen eine Pfarrei mit späteren Läut-Zeiten oder dem Weglassen mancher Zeiten entgegen. Auch wenn sie es vom Gesetz her nicht müssten. Andere wiederum, wie die Pfarrei St. Philippus in Laim, haben erst vor Kurzem Glocken installieren lassen, was nun manche Anwohner verärgert. Vor allem die, die nicht gefragt worden sind, weil sie keine katholischen Gemeindemitglieder sind. Auch hier könnte Fischers Devise zutreffen: Mit mehr Wissen hätte es vielleicht weniger Ärger gegeben.

Ein Grund, warum Glocken faszinieren, ist auch ihr Nachklang. Die laut Fischer berühmteste Glocke der Welt, die in Erfurt hängt, "sie ist nahe an der Perfektion", klingt fünf Minuten nach. Das ist etwa so lange, wie man als Leser braucht, um von Fischers "Jetzt!" am Anfang des Textes bis zu diesem Satz zu lesen.

"Das Läuten einer Glocke geht tief ins Gefühl, in den Bauch, versetzt einen in Stimmung." Die Glocke liegt ja irgendwie auch zwischen oben und unten, dem Weltlichen und dem Göttlichen, vielleicht nicht auf halber Strecke, aber in einem Turm zumindest immerhin dazwischen. Das Läuten vor der Messe: "eine Einstimmung, ein Opener". Ein Rhythmus, der einen mitgrooven lässt.

Das Läuten gefällt nicht allen so gut. (Foto: Catherina Hess)

Viele Türme haben vier Glocken, manche aber auch nur zwei, immer abhängig von der Statik des Kirchturms. In der Frauenkirche hängen zehn, genauso wie im Alten Peter, in Scheyern hat die Klosterkirche gar 14 Glocken. Das Läuten, es gehöre einfach dazu, "und wird es auch in 50 Jahren noch". Kein Regisseur, der eine Beerdigung nicht mit Glocken unterlegt, "sogar beim Tatort", oder die Beisetzung der englischen Prinzessin Lady Di. "Jede Minute hat Big Ben einmal geschlagen." Big Ben, die größte Glocke in Westminster. Wobei man dann natürlich gleich weit über Freimann und St. Albert hinausschaut.

Ob in Berlin, Peiting oder München, das Läut-Gesetz gilt überall, dann schwingen die Glocken, was die Statik hergibt. In anderen Ländern gibt es ganz andere Klänge. In England hört man Tonleitern, und dort gibt es sogar Meisterschaften im "Change ringing", bei denen es um genau abgestimmtes Läuten geht. In Spanien sind die Glocken oft an einem Rad aufgehängt, das sich bewegt und zu einem "wirren" Läuten führt, sagt Fischer. Und überall gibt es den gleichen Effekt bei den Glocken-Liebhabern: Sie genießen den sphärischen Klang, die Verbindung zu oben, die Ahnung von Ewigkeit. Denn im Prinzip hält so eine Glocke auch ewig. Wenn sie Risse bekommt, wird sie erwärmt, und der Riss ausgegossen. "Danach klingt die Glocke auch wieder wie am Anfang. Eine Art Sauna-Gang zur Erholung."

Und dann gibt es immer auch noch den Doppler-Effekt, den auch der Mensch spürt. "Eine Glocke ist eine sich bewegende Schallquelle, das ist wie bei einem Krankenwagen, der von einem weg- oder auf einen zufährt", sagt Fischer. Beim Menschen entstehe ganz leicht und unterbewusst das Gefühl, dass da etwas auf einen zukomme oder sich entferne. Auch das steigert die Aufmerksamkeit. Aber Fischer, Glockensachverständiger und glockengroßes menschliches Lexikon, sagt auch: "Selbst mich nervt das Läuten manchmal." Was man bei einem Abstand von zwei Metern auch als absoluter Laie nachvollziehen kann. Versteht man also die über Glockenläuten verärgerten Anwohner? Rainer Schießler auf jeden Fall nicht.

Die volle Dröhnung gibt es in der Innenstadt am Samstagnachmittag um 15 Uhr

Der Pfarrer von Heilig Geist am Viktualienmarkt und St. Maximilian an der Isar sagt: "Ja glauben denn die Leute, die sich über das Läuten beschweren, wirklich, dass wir läuten, um sie zu ärgern? So blöd sind wir doch nicht." Er schreibt jedem Anwohner, der sich beschwert, einen langen Brief. "Die Leute sind hinterher absolute Experten für Glocken." Besänftigung und Beruhigung durch Wissensvermittlung, wie bei Fischer. "Es geht um Gebetsmomente, um das Innehalten, wenn die Glocken läuten. Ich lege den Stift weg und bete, wenn ich die Glocken höre."

Beten muss ja nicht unbedingt gleich sein, aber wem schadet in der hektischen Stadt München schon ein Innehalten ein paar Mal am Tag? Schießler ist auch Glocken-Experte, er kann von den Warnfunktionen berichten, die eine Glocke früher hatte, vor Feuer zum Beispiel. "Die Glocke wanderte irgendwann vom sakralen in den profanen Bereich." Einmal habe er einen bösen Brief bekommen, nach Ostern. In der Osternacht, die Messe startet um 5.30 Uhr, hat er gegen sechs Uhr die Glocken zum Gloria läuten lassen. "Ein mörderischer Akt", schrieb der Anwohner. Das ist natürlich rein kirchenhistorisch richtig, aber er meinte das Läuten.

In der Kirche St. Albert in Freimann gab es bisher keine Probleme mit Anwohnern. (Foto: Catherina Hess)

"Wir läuten nur an Weihnachten und Silvester in der Nacht", sagt der Pfarrer. Es gebe aus der Kriegszeit so viele Geschichten, wie Menschen die Glocken ihrer Kirchen zu retten versuchten, weil ihnen der Klang so viel bedeutete, sagt Schießler. Viele seien auch versteckt worden, um nicht für die Kriegsmaschinerie eingeschmolzen zu werden. "Und als die dann nach dem Krieg wieder läuteten, das war wie eine Befreiung für die Leute." Wobei Schießler seine Glocken auch mal als Lärminstrument einsetzt. Als die AfD vor einiger Zeit eine Veranstaltung auf dem Marienplatz angemeldet hatte, kam Schießler dazu und wollte per Fernbedienung die Heilig-Geist-Glocken läuten lassen, wenn die Redner sprechen. Der Funk reichte nicht. Ansonsten ist die Glocke ein friedliches Instrument. Glockenfans sprechen vom "Küssen", wenn Klöppel auf Glocke trifft, 250 auf 6000 Kilogramm.

Der Stundenschlag hingegen ist eine ganz andere Sache. Der muss sich mit Lärm vergleichen lassen. Dafür wird eine Glocke auch nicht vom Klöppel geschlagen, sondern von einem sogenannten Schlaghammer. "Es gibt Fälle, in denen die Kirche, wenn der Stundenschlag zu laut ist, einen zweiten Schlaghammer eingebaut hat, einen für den Tag, etwas lauter, und einen leiseren für die Nacht."

Die volle Münchner Dröhnung gibt es im übrigen in der Innenstadt am Samstagnachmittag um 15 Uhr. Da lässt Schießler seine Glocken das Wochenende mal so richtig einläuten, aber auch alle anderen Innenstadtglocken schwingen mit aller Wucht, dass Doppler große Freude daran hätte. "Das geht 15 Minuten, und alle Glocken sind aufeinander abgestimmt", sagt Fischer. Vielleicht wäre das ja auch eine Art, wie man unzufriedene Anwohner besänftigen kann: durch eine Überdosis, eine Art Hypersensibilisierung.

© SZ vom 04.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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