Keiner kann ansatzweise fühlen oder erahnen, was der Verlust für die Familie und Freunde bedeutet. Meine Familie und ich teilen Ihr Schicksal." Mit diesen Worten, verlesen am 22. Februar auf dem Freiheitsplatz in Hanau, wendet sich eine Münchnerin an die Angehörigen und Freunde jener zehn Menschen, die Tobias R. drei Tage zuvor ermordet hat. Ein rechtsextremistischer Anschlag. Die junge Münchnerin weiß, was das heißt. Sie ist die Tochter von Theodoros Boulgarides, dem siebten Opfer des NSU, ermordet am 15. Juni 2005 in seinem erst zwei Wochen zuvor eröffneten Schlüsseldienst in der Trappentreustraße im Münchner Westend.
Der Mord an Boulgarides jährt sich im Frühsommer zum 15. Mal; im September wird an den 40. Jahrestag des Oktoberfest-Attentats erinnert; im Juli 2021 wird der Opfer des OEZ-Anschlags fünf Jahre zuvor gedacht und im August des NSU-Opfers Habil Kilic, ermordet 2001. 24 Menschen sind in den vergangenen 40 Jahren in München von Rechtsextremisten umgebracht worden - so viele, wie in keiner anderen Stadt in Deutschland.
Nur fünf Jahre nach dem Oktoberfest-Attentat wurde auf einen Münchner Nachtclub in der Schillerstraße ein tödlicher Anschlag verübt, der nahezu völlig aus dem Gedächtnis der Stadtgesellschaft verschwunden ist, obwohl die beiden Täter der rechtsextremen "Gruppe Ludwig" insgesamt 15 Menschen ermordeten und eine Blutspur hinterließen, die mit der des NSU vergleichbar ist. In München kämpften auch die Angehörigen der Opfer vom OEZ, ihre Anwälte und schließlich die Stadt drei Jahre lang darum, dass das Offenkundige offiziell anerkannt wurde: dass der Täter David S. ein Rassist war, ein Rechtsextremist und Bewunderer Adolf Hitlers.
40 Jahre rechter Terror in der einstigen "Hauptstadt der Bewegung" der Nazis - das sind auch Hunderte an Leib und Seele verletzte Menschen, das sind zerstörte und verzweifelte Familien, die immer wieder Ähnliches erlebten. Dass ihnen nicht geglaubt wurde, dass sie sogar selbst verdächtigt wurden. Dass die Mörder pathologisiert und zu psychisch kranken Einzeltätern erklärt wurden. Dass Hilfe versagt wurde oder zu spät kam. Dass ihre Geschichte, wie die Tochter von Theodoros Boulgarides sie in ihrer Grußbotschaft an die Hinterbliebenen von Hanau andeutet, nicht zu einem Teil der Münchner Stadtgeschichte geworden ist, auch nach Jahren nicht. Ein "allgemeines schnelles Verblassen der Erinnerung an rechte Gewalttaten und rechtsterroristische Attentate" stellt Marcus Buschmüller von der Fachinformationsstelle Firm fest. "Es gibt viele, viele Leerstellen im öffentlichen Bewusstsein. Es braucht mehr Erinnerung und Aufmerksamkeit", sagt auch Damian Groten vom Opferhilfeverein Before.
Eine dieser Leerstellen wird im September geschlossen, so, dass buchstäblich niemand mehr daran vorbei kommt. Dort, wo am 26. September 1980 um 22.19 Uhr in einem Papierkorb am Haupteingang zum Oktoberfest Gundolf Köhlers Bombe zwölf Menschen tötete und weit mehr als 200 zum Teil schwer verletzte. Der Entwurf des Gestaltungsbüros Müller-Rieger sieht laut Kulturreferat Bilder und Texte auf lebensgroßen beleuchteten Silhouetten vor. Der Informationsort wird eine Fläche von 13 mal 19 Metern einnehmen. "Das macht das Ausmaß dieses größten Terrorakts der bundesdeutschen Geschichte deutlich", sagt Pressesprecherin Jennifer Becker.
Was damals geschah, sagt Becker, müsse immer wieder erklärt werden. Es sei erstaunlich, sagt auch Groten, wie wenig selbst diese Tat im Gedächtnis vieler Münchnerinnen und Münchner verankert sei nach 40 Jahren. Die Geschichte des Gedenkens an das Oktoberfest-Attentat zeigt, wie kompliziert Erinnerung ist. Wie "aktives Gedenken nur aus der Stadtgesellschaft heraus entstehen" kann (Groten), welche Rolle aber umgekehrt auch offizielle Stellen dabei spielen können - oder eben nicht.
Wie zentral es ist, auf die Stimmen der Betroffenen zu hören, und wie unterschiedlich diese Stimmen sein können, vom öffentlichen Auftreten als Zeitzeuge bis hin zum Wunsch, mit der eigenen Trauer allein bleiben zu dürfen. Wie wichtig es ist, Rituale zu finden und zugleich der Gefahr zu entgehen, Ereignisse allzu ritualisiert-routiniert "abzuarbeiten" (Becker). Und wie bitter notwendig der Blick auf Zusammenhänge zwischen den einzelnen Taten ist, um Lehren, um Konsequenzen daraus ziehen zu können - und wie viel Respekt vor der Trauer der Opfer und Hinterbliebenen und ihrem jeweils ganz eigenen Schicksal dabei erforderlich ist.
"Manchmal verbietet sich Aneignung", sagt Jennifer Becker. Partizipativ, ergebnisoffen und mit dem richtigen Timing müsse die Auseinandersetzung mit Ereignissen wie den rechten Terroranschlägen von München erfolgen. Im Fall des Oktoberfest-Attentats ist diese Annäherung auch im Stadtbild sichtbar: Schon im Jahr nach der Tat wurde im Auftrag der Stadt eine Gedenksäule des Bildhauers Friedrich Koller an der Stelle des Attentats errichtet mit der Inschrift: "Zum Gedenken an die Opfer des Bombenanschlags vom 26.09.1980" sowie den Namen der Getöteten. 2008 wurde die Gedenksäule um eine halbrunde, durchlöcherte Stahlwand erweitert, die die Streukraft der Bombe symbolisieren soll.
Erst weitere sieben Jahre später kam im Rahmen eines Zeitzeugen-Projekts erstmals ein intensiver Dialog mit rund 40 bis 50 Betroffenen zustande. Die Stadt initiierte einen Fonds für die Betroffenen, um Spätfolgen des Attentats zu mildern. Gemeinsam werden seither auch Formen des Erinnerns und Gedenkens diskutiert. Ergebnis war eine Gedenktafel, die vor zwei Jahren am Neuen Rathaus angebracht wurde. Erstmals richtet sie den Blick auf die Hintergründe der Tat und die Opfer: "Ihr unbeachtetes Leid mahnt uns zur Fürsorge. Rechtsextreme Taten fordern unsere Wachsamkeit."
Denn neben dem Gedenken ist auch der Blick in die Zukunft untrennbar mit der Erinnerung an die rechten Terroranschläge verbunden. Das hat sich nicht erst, aber besonders erschreckend nach den Morden von Hanau gezeigt. Der Täter hatte zuvor fünf Jahre in München gelebt, auch am Tag des OEZ-Anschlags vom 22. Juli 2016. Die Parallelen zwischen den neun Morden in der Hanauer Straße in München und den zehn Morden in Hanau sind mehr als zufällig: die Auswahl der Opfer mit Migrationshintergrund oder aus Roma-Familien, die Pamphlete, die die Täter hinterließen, Schießtraining und Tatwaffen (in beiden Fällen eine Glock 17), die Tatorte, "Orte des täglichen Lebens. Orte, an denen wir uns treffen und zusammen Spaß haben", wie es Patrycja Kowalska von der Münchner Initiative "Kein Schlussstrich" in ihrer Rede in Hanau formuliert; das rassistische, verschwörungstheoretische, antisemitische Weltbild der beiden Täter.
Nach dem rechtsextremistischen Anschlag in Hanau übernahm der Generalbundesanwalt sofort die Ermittlungen. Nach den Morden am Münchner OEZ hatte es mehr als drei Jahre gedauert, ehe bayerische Behörden "zweifelsohne auch rassistische Beweggründe" in dem vermeintlichen Amoklauf erkannten und das Attentat offiziell als "politisch motivierte Kriminalität rechts" einstuften. Auf dem Mahnmal in der Hanauer Straße steht das Wort "Amoklauf".
Miriam Heigl von der städtischen Fachstelle für Demokratie, die mit drei Expertengutachten die Neubewertung der Tat angestoßen hat, meint: "Aus fachlicher Sicht glauben wir, es braucht eine Änderung." Statt vom "Amoklauf" sollte von "rassistischem Hassverbrechen" die Rede sein. Doch es gebe eben "nicht nur die eine Perspektive" unter den Angehörigen der Opfer, darauf weist Before-Sprecher Groten hin. Die von dem Verein betreuten Betroffenen wollten eine Änderung oder Ergänzung der Inschrift, andere aber nicht. Man sei in guten Gesprächen mit den Angehörigen, sagt Jennifer Becker. Das ist entscheidend, weiß Damian Groten: "Gedenken ist ein Prozess, der nur mit den Betroffenen zusammen funktionieren kann."
Mit Menschen wie einer jungen Münchnerin, deren Botschaft am 22. Februar in Hanau ebenfalls zu hören ist. Die damals 17-Jährige musste am OEZ zusehen, wie ihr Bruder neben ihr starb. "Es sind Bilder, die mich bis in den Schlaf verfolgen."