Demonstration:"Mutti macht's nicht"

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Deutliche Worte: Demo für Kinderrechte und gegen Corona-Maßnahmen der Staatsregierung auf dem Wittelsbacherplatz. (Foto: Catherina Hess)

Die Initiative "Familien in der Krise" protestiert gegen Home-Schooling - auch mit Blick auf eine mögliche neue Infektionswelle im Herbst.

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"Ich will, dass die Schule wieder normal ist", sagt Annabelle. Die Neunjährige geht in die vierte Klasse einer Münchner Grundschule, und in der gibt es mittlerweile zwar wieder Unterricht, normal ist dieser aber nicht. Die Klassen sind geteilt, die Hälfte Ihrer Mitschüler hat Annabelle seit Wochen nicht gesehen.

Am Samstag um kurz nach zehn Uhr steht sie deshalb mit ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder auf den Wittelsbacherplatz und demonstriert, in der Hand ein Schild, das der Bruder gemalt hat: "Wir wollen Schule, wir wollen Schule", steht darauf. In der Abwägung mit dem Infektionsschutz sei das Recht auf Bildung bisher zu kurz gekommen, findet Annabelles Vater, er ist Anwalt. Das Mädchen denkt vor allem an die Kinder. "Ich vermisse viele aus der anderen Hälfte der Klasse", sagt sie. Besonders ihre Freundin Melissa.

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So wie Annabelle und ihre Familie sind am Samstag etwa 60 kleine und erwachsene Münchnerinnen und Münchner auf die Straße gegangen, mit Schildern wie "Alle Kinder sind systemrelevant" oder auch "Mutti macht's nicht". Das steht auf dem Schild von Martina Wermuth. Die Mutter von zwei Töchtern erzählt, sie habe im März gerade einen neuen Job angetreten und sei auch mit der Kinderbetreuung extrem unter Druck gewesen, teilweise am Rande der Verzweiflung. "Ich würde mir eine Perspektive wünschen", sagt sie. "Dass wir lernen, mit Infektionen zu leben, statt pauschal Einrichtungen zu schließen."

Die Elterninitiative "Familien in der Krise" hatte bereits zum dritten Mal zur Kundgebung aufgerufen, um gegen die in ihren Augen familienfeindliche Politik der bayerischen Staatsregierung zu protestieren. Ähnliche Kundgebungen gab es am Samstag in anderen deutschen Städten. An den Schulen in Bayern werden zwar wieder alle Schüler unterrichtet, wenn auch in wechselnden Gruppen. Und auch in den Kitas herrscht seit Monatsbeginn wieder ein sogenannter eingeschränkter Regelbetrieb - das heißt, dass alle Kinder kommen dürfen, wenn sie keinen Kontakt zu Infizierten hatten und keine Krankheitssymptome zeigen. Doch für Helen Zeidler, die die Kundgebung organisiert hat, ist damit noch lange nicht wieder alles in Ordnung.

Präsenzunterricht gebe es in den Schulen nur zur Hälfte, nicht komplett, sagt Zeidler. Und es gebe keine Strategie für den Herbst. "Zu glauben, nach den Sommerferien ist alles wieder gut, ist naiv." Sollte eine zweite Infektionswelle anrollen, dürfe es nicht so kommen wie im März. Kitas und Schulen dürften nicht sofort komplett geschlossen werden, und es dürften nicht wieder die Eltern sein, die selber zusehen müssen, wie sie den Beruf, die Kinder und deren "Lernen zuhause", wie es das Kultusministerium nennt, organisieren. "Das können Eltern nicht mehr leisten", sagt Zeidler. "Aber in der Politik gibt es hierzu kein Problembewusstsein. Familien haben keine Lobby."

Ginge es nach "Familien in der Krise", würde es gar kein "Home Schooling" durch die Eltern mehr geben. "Die Durchführung des Unterrichts, ob in Präsenzform oder aus der Ferne, ist zentrale Aufgabe der Schulen und nicht der Eltern", heißt es in einer Liste von Forderungen der Initiative. Es brauche ein einheitliches Konzept für digitalen Unterricht sowie Schulungen für die Lehrer, damit sie die Kinder auch dann vollwertig unterrichten können, wenn diese zuhause sitzen müssen. Die Schulen seien aber weiterhin zu schlecht digital ausgestattet, und auch ein Digitalkonzept fehle immer noch, sagt Zeidler. "Wir lassen es uns nicht mehr gefallen, dass die Kosten für diese Versäumnisse vollständig auf uns Familien abgewälzt werden!", sagte sie am Samstag ins Mikrofon.

Es gebe kein einheitliches Konzept, klagte nach Zeidler auch Andrea Reif, Unternehmerin und Mutter von drei Kindern. Der Bund schiebe die Verantwortung auf die Länder, der Freistaat auf die Schulen, und die Schulen auf die Lehrer. "Es gibt kein Werkzeug, es gibt keine Schulungen, aber mach mal", so Reif: Ginge eine Firma so vor, sie wäre in kürzester Zeit insolvent. "Und was war das im vergangenen Jahr für ein Aufschrei, weil die Schüler von Fridays for Future freitags ein paar Stunden Unterricht verpasst haben! Wo bleibt jetzt der Aufschrei wegen der verpassten Monate?"

Noch vor Reif war Ludwig Hartmann vor die Eltern getreten, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag. Die erste Reaktion der Staatsregierung auf die Pandemie sei richtig gewesen, sagte er. "Aber der Grat zwischen dem fürsorgenden und dem bevormundenden Staat ist ganz schmal." Man müsse ehrlich zugeben, dass man mit einem Restrisiko leben müsse, und dürfe Kindern nicht mehr das Recht nehmen, andere Kinder zu sehen. Dabei gehe es auch um Gerechtigkeit. Wenn die Kinder wegen der Coronakrise Stoff versäumten, würden bessergestellte Familien eben einen Nachhilfelehrer anheuern. "Aber in Familien, die sich das nicht leisten können, bleiben die Kinder auf der Strecke." Der Freistaat, forderte Hartmann, solle in solchen Fällen einspringen.

© SZ vom 06.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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