Ausgangssperre in München:"Ach, echt?"

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Nicht mehr los am Marienplatz: Die meisten Münchner halten sich an die nächtliche Ausgangssperre. (Foto: Stephan Rumpf)

Eigentlich gilt seit Mittwoch in München eine Ausgangssperre ab 21 Uhr. Natürlich sind an diesem ersten Abend noch einige Leute unterwegs. Ein Rundgang mit Überraschungen und Überraschten.

Von Philipp Crone

Drei Minuten um kurz nach 22 Uhr an der Reichenbachbrücke reichen. In dieser Zeit bekommt man am Mittwochabend eine gute Vorstellung vom Durcheinander dieser Tage: Alkohol, Ausgehen, Ausreden.

Der Kiosk an der Reichenbachbrücke darf zum Beispiel bis 20 Uhr jedes alkoholische Getränk verkaufen, bis 22 Uhr dann noch Bier. Konsumieren dürfen es die Kunden allerdings nicht mehr vor dem Laden. Ab 21 Uhr darf eigentlich ohnehin schon keiner mehr raus an diesem Abend, es sei denn, er geht zum Beispiel zur Arbeit oder es handelt sich um einen medizinischen Notfall.

Der Verkäufer hinter dem Kiosktresen lächelt um 22.18 Uhr, als er sagt: "Wenn einer jetzt zu uns kommt, um Zigaretten zu kaufen, dürfen wir ihm die verkaufen, aber er dürfte eigentlich nicht zu uns kommen." Es sei denn, Zigaretten, Chips oder Schokolade sind medizinisch dringen nötig.

Als er das sagt, joggt eine junge Frau vorbei (nicht erlaubt) und auf der Fraunhoferstraße führt eine ältere Dame ihren Hund Gassi (das fällt wohl unter den in der Allgemeinverordnung erlaubten Bereich "Handlungen zur Versorgung von Tieren").

Ausgangssperre in München
:"Die Leute sind brav, es ist krass wenig los"

Gähnende Leere am Stachus, am Marienplatz, am Hauptbahnhof. Die meisten Münchner halten sich an die nächtliche Ausgangssperre. Die Bilder.

Dann heult eine Sirene. Doch es ist nicht die Polizei, es ist nur ein Krankenwagen. Irgendwie passt dieser Moment zur Situation. Die jeden unmittelbar betreffenden Regeln und die sie durchsetzende Polizei scheinen deutlich präsenter und vielleicht einigen auch deutlich wichtiger zu sein als die noch immer abstrakte medizinische Lage. Klar ist eigentlich nur, wenn man an diesem Abend durch die Stadt läuft, wie unklar vieles ist.

Der Barkeeper in der Cordo-Bar hatte die letzten Tage "bis zu 150" Leute an der Klenzestraße, die bei ihm Glühwein gekauft und dann auf dem Bürgersteig getrunken haben. "Heute kommt kaum einer mehr." Auf einem Schild steht: "Bitte nicht hier genießen."

200 Meter weiter gibt es in der Gärtnerplatz-Alm nur noch Punsch, am Vortrag war's noch Glühwein. Die Gastronomen sind selbst unsicher, was sie wo dürfen (sie dürften an diesem Tag bis 22 Uhr Glühwein verkaufen, aber von 21 Uhr an darf ihn eh keiner mehr kaufen, weil "mal eben Glühwein-Holen" auch nicht in der Allgemeinverfügung steht und um den Gärtnerplatz ohnehin der Alkoholkonsum verboten ist). Also lassen sie es im Zweifel lieber gleich bleiben. Eine gute Entscheidung, da die Stadt am Donnerstagmittag dann auch gleich das Verbot, Alkohol im Freien zu konsumieren, auf ganz München erweitert.

An der Tankstelle in der Josephspitalstraße stehen eine Stunde zuvor zwei Männer vom Sicherheitsdienst des Kreisverwaltungsreferats. Mit ihren blauen Uniformen sehen sie aus, als wären sie vom Sondereinsatzkommando. Jeder hat einen Pappkaffee in der Hand, sie wirken zufrieden. "Es ist deutlich weniger los als die letzten Tage", sagt einer. Und der Tankwart nickt drinnen hinter der Kasse ebenfalls, "ganz schön ruhig". Genauso ist es ein paar Hundert Meter weiter am Stachus.

Nur ein Mannschaftswagen der Polizei steht da auf dem leeren Platz, einer der beiden Polizisten steigt aus und fragt mit Blick auf das erleuchtete McDonald's-Restaurant: "Dürfen die eigentlich noch offen haben?" Ja, Speisen zum Mitnehmen anzubieten ist erlaubt. Den beiden Polizisten kommt eine Frau entgegen. Wird jetzt also die erste Verwarnung ausgesprochen? Nein, denn die 28-jährige Tamari Robakidze aus Georgien ist auf dem Weg zur Arbeit, ihre Schicht beim Burgerbrater geht gleich los. Der Polizist schaut ihr nach und sagt: "Ach, die Leute sind brav, es ist krass wenig los."

Zwei Männer stehen ein paar Meter weiter an der Rolltreppe zur U-Bahn und essen Chicken McNuggets aus Pappschachteln. Beide sind Pfleger aus Großhadern, 37 und 22 Jahre alt. "Wir wollten frische Luft schnappen und sind mit der U-Bahn reingefahren, um was zu essen." Das ist aber kein erlaubter Ausgehgrund. "Ach, echt?" Na ja, sie fahren ja dann eh gleich wieder und in der U-Bahn "war fast nichts los".

Das ist etwa genauso viel wie in der Bahnhofshalle. Da kann man um kurz vor 22 Uhr vom Eingang Arnulfstraße dreizehn Personen zählen, vier davon sind von der Bahncrew an Gleis 19. Ein Zug rollt Richtung Berlin los, ein junger Mann und zwei Frauen kommen vom Bahnsteig. Was sie da machen? "Wir haben eine Freundin zum Zug gebracht", sagt eine der Frauen. Ausgehverbot und so? "Oh, vergessen." Aber sie fahren jetzt eh schnell wieder nach Hause.

Zwischen dunklen Büro- und erleuchteten Wohntürmen ist nun wirklich kaum ein Mensch mehr unterwegs. Man kann vom Stachus durch die Fußgängerzone radeln und nur drei Passanten begegnen. Am Ende steht dann auf dem Marienplatz wieder ein Polizei-Mannschaftswagen. Und an der Mariensäule stehen zwei junge Frauen. Sie sind 18 und 19 Jahre alt, studieren im ersten Semester Physik an der LMU und sind überzeugt, dass sie mit ihrem Spaziergang nichts Unerlaubtes machen. "Der Inzidenzwert ist doch bei 170, oder?", fragt die eine. Nein, bei mehr als 200. Aber man dürfe doch wohl noch spazieren. Leider nein. "Ach, die Polizei hat uns ja schon gesehen und nichts gesagt", sagt die andere. Dabei wollten sie doch nur einen Spaziergang machen, etwas essen (in dem Fall Pommes, keine Nuggets) und den hell erleuchteten Christbaum anschauen. Und dann stehen sie da, schauen den Baum an und wirken dabei fast ein bisschen trotzig. Nicht alle scheinen sich nach zehn Monaten Corona noch über jede Regeländerung gewissenhaft zu informieren und allzu großen Respekt vor drohenden Regelverstößen zu haben.

Selbst über den Gärtnerplatz huschen um kurz nach 22 Uhr nur zwei Gestalten, nicht einmal der obligatorische Mannschaftswagen der Polizei ist zu sehen. Und am Reichenbachkiosk hat sich nun auch der Verkehr auf der Straße beruhigt, nicht nur der auf den Bürgersteigen. Verordnungen sind das eine, Vernunft das andere. Verlass ist allerdings bei der Frage, wie man die ausgehentschlossenen Münchner zu Hause hält, aber offenbar am ehesten auf Kälte, Schnee und Nacht.

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