Armut und Obdachlosigkeit:"Mir sind alle Zehennägel ausgefallen, weil sie erfroren waren"

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Die Vorgaben waren: Maximilianstraße oben, Brücken unten. Norbert Middel hat sehr frei interpretiert. (Foto: Robert Haas)

Hier die Maximilianstraße, dort das Matratzenlager: Etwa 9000 Menschen haben in München keine Wohnung. Sie schlafen in Notquartieren oder draußen. Und manchmal ist es Glück, dass sie überleben. Über ein Projekt, das um Sichtbarkeit einer großen Ungerechtigkeit kämpft.

Von Bernd Kastner, München

Da muss was Großes rein. Das war ihnen gleich klar, als sie diesen hohen Raum sahen. Also haben Tanja Frank und Isabel Huttner, zwei Kunsttherapeutinnen, ihre Klienten gefragt, und so ist tatsächlich Großes entstanden. Zwei Bilder, sechs auf viereinhalb Meter messen sie und zeigen München von unten. Zwischen und neben den Bildern stehen ein altes Rad, ein Einkaufswagen, ein Sessel ohne Polster, Euro-Paletten mit Decken drauf. Auf Tabletts laufen kurze Videos. Menschen erzählen von der Straße.

"Aus dem Leben?" lautet der Titel dieser ungewöhnlichen audiovisuellen Installation von ehemals Obdachlosen, zu sehen ist sie im Kunstpavillon im Alten Botanischen Garten. Der Titel deutet das Sterben an, das ja. Doch die Menschen, deren Geschichte zu hören, deren Kunst zu sehen sind, gehen nicht aus dem Leben, sie waren im Leben und sind es weiter. Wenn auch für die meisten Münchner fast unsichtbar, und wenn es oft ein Über-Leben war. Heute wohnen sie in geschützten Häusern, mit Dach und Türe. Mit mehr Würde.

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"Irgendwann haben sich die Zehen schwarz gefärbt. Mir sind alle Zehennägel ausgefallen, weil sie erfroren waren. Da habe ich mir dann schon gedacht, hättest du jetzt mehr Alkohol getrunken oder wäre es ein bissen kälter gewesen, dann wärst du gestorben." Das sagt Hermann Arbinger in einem der Videos. Jetzt sitzt er im Haus an der Knorrstraße, fünfter Stock, Blick über die Dächer, und erzählt im Zeitraffer.

Seit einem Jahr lebt er hier, betreut von Fachleuten des Katholischen Männerfürsorgevereins (KMFV), der ehemals Obdachlosen kleine Zimmer gibt, abschließbar, mit Nasszelle, Arbinger nennt es "mein Apartment". Morgens geht er zur Arbeit, in den Laden des KMFV nebenan, in dem sie verkaufen, was Bewohner in der Kunsttherapie geschaffen haben. Tonvasen, Essgeschirr, Insektenhotels, auch mal eine Truhe auf Bestellung. Arbinger sagt, dass er sich mit letzter Kraft Hilfe geholt hat, er war zwei Jahre auf der Straße. Er nächtigte in einem Abbruchhaus, ehe er dort bedroht wurde. "Hey, du Penner, komm raus! Wir wissen, dass du hier bist." Da ging er in den Wald, ein halbes Jahr, den Winter über.

"Hey, du Penner, komm raus! Wir wissen, dass du hier bist."

Arbinger ist jetzt 56. Sein Absturz begann unmerklich, der Alkohol führte ihn nach unten. Er hatte einen verantwortungsvollen Job, sagt er, bei einem Automobilzulieferer, verdiente gutes Geld. Dann wurde er zunehmend unkonzentrierter, schämte sich. Irgendwann schmiss er hin, um die Pannen nicht dem Chef gestehen zu müssen. Fehler Nummer eins, sagt er heute. Fehler zwei war, dass er nach Streitereien mit seinem Vermieter seine Wohnung verließ und zunächst im Auto lebte. Zu seinen vier Kindern hatte er da schon lange keinen Kontakt mehr.

Es folgten viele Monate, überall und nirgendwo. Regensburg, München. Suizidversuch, Klinik, Herz-OP. Raus aus der Reha, zurück in den Wald. Um zu überleben, klaute er Kartoffeln vom Acker und Leergut aus offenen Garagen. Das Geld investierte er zuerst in Alkohol. Er schlief in verlassenen Gartenlauben oder in der Wildnis, eingerollt in eine Plastikplane. Er war damals nicht mehr Herr seiner Sinne, nicht fähig, sich aufzuraffen, beim Amt das ihm zustehende Geld zu holen. Er wusste, wie knapp es war. "Ich sterbe jetzt bald."

Viel Himmel und Licht: Chris Kuehlke zeigt sein Bild, das er im Rahmen des Kunstprojekts für Wohnungslose gemalt hat. (Foto: Robert Haas)

Das Sterben. Es ist als Leitmotiv der Installation nur zu erahnen, aber doch ihr Ausgangspunkt, erzählt Heike Beck vom Hospizverein Da-Sein. Vor vier Jahren wurde sie als Sterbebegleiterin in eine Notunterkunft gerufen. Beck sah, dass das keine würdevolle Umgebung war, und auch die Mitarbeitenden dort waren ratlos. Was tun für Sterbende? Worüber reden?

Es entstand die Idee, Hospizdienst und die Wohnungslosenhilfe zu vernetzen, die Botschaft lautete: "Da gibt es jemanden." Begleiter, die auch zu den Unsichtbaren kommen und ihnen auch palliativmedizinische Versorgung anbieten. Teil zwei der Kooperation ist, die übrigen Münchner davon wissen zu lassen. Wir gehen nicht nur zu denen in einer gewöhnlichen Wohnung.

So ist über Monate das Kunstprojekt gewachsen, das jetzt, verzögert wegen Corona, für wenige Tage zu sehen ist, in einer kleinen Terminlücke des Kunstpavillons. Das Thema scheint so gar nicht zum Sommer zu passen, aber so ist es ja auch mit Armut und Reichtum. Hier die Maximilianstraße, an der Isar das Matratzenlager. Kriegt man auch nicht zusammen und doch existiert beides, Not und Luxus.

Acht- bis neuntausend Menschen haben in München keine Wohnung, sie nächtigen draußen, in Notquartieren oder Häusern wie in der Knorrstraße. Die Zahl hat sich binnen eines Jahrzehnts mehr als verdreifacht, seit 2017 ist sie leicht rückläufig, zumindest in der Statistik. Das liegt vor allem daran, dass einige Geflüchtete eine Wohnung gefunden haben oder nun mit der Couch eines Freundes vorlieb nehmen. Und niemand weiß, wie viele Menschen draußen schlafen. 550 sind es laut Statistik, tatsächlich dürften es längst um die 1000 sein, die amtliche Zählung wurde wegen Corona verschoben. Schicksale sind geronnen zu einer Dunkelziffer.

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Wie hell und weiß sind dagegen die Wände im Kunstpavillon. Die Gemälde der Installation bestehen aus je zwölf Paneelen, wie Puzzle fügen sie sich zu zwei Straßenansichten, gestaltet von mehreren Künstlern. Die Therapeutinnen Frank und Huttner verteilten vor Monaten die Paneele auf ihre Klienten in den verschiedenen Häusern, pandemiebedingt war kein gemeinsames Malen möglich. Sie machten grobe Vorgaben auf Fotos, die Maximilianstraße oben, unten Brücken und Schlafplätze.

Norbert Middel, 56, hat seinen Part frei interpretiert, er ließ Efeu wachsen, für die vielen grünen Blätter hat er Schablonen angefertigt. Und er hat den "Mund der Wahrheit" eingebaut. Jeder Rom-Tourist kennt die Marmorscheibe, in die man die Hand steckt. Weil die Marmorscheibe wohl mal ein Kanaldeckel war, kam sie Middel in den Sinn, so ein Kanaldeckel liegt ja auch auf Straßenniveau.

Er trinkt jeden Abend um die fünf Bier. Das darf er, das ist okay

Auch Chris Kuehlke, 66, hat mehrere Teile gemalt, viel Himmel und Wolken. Kuehlke ist Deutscher, spricht aber Englisch, weil er bis vor kurzem in den USA lebte. Er war als Kind adoptiert worden, sein Leben verlief nicht gerade und gut, er macht nur ein paar Andeutungen.

Mit Mitte 60 wollte er ins Land seiner Geburt zurück, erzählt er. Mit 35 Dollar in der Tasche kam er 2019 an, er startete in einer Bahnhofsmission. Er malt und zeichnet gern, auf dem Handy zeigt er Fotos seiner Bilder. Mal exakte Portraits, mal kunstvolle, bunte Muster. "That's my passion." Blau-weiß ist sein Himmel für die Installation. Ein Symbol? Kuehlke sinniert. Woran hat er gedacht beim Malen? Nicht ans Sterben, das Leben hatte er im Kopf, "I thought about life."

Vielleicht ist Herrmann Arbinger deshalb noch da, weil er irgendwann die S-Bahn bestiegen hat, mit letzter Kraft von draußen nach drinnen gefahren ist, in die Stadt, Pilgersheimer Straße. Dort ist die erste Anlaufstelle vieler Obdachloser. Es geschah, was er nicht erwartet hatte, erzählt er. Sie waren freundlich, haben zugehört und überlegt, wie es für den Mann aus dem Wald weitergehen kann.

Er zog in ein Haus in Oberschleißheim, um ganz trocken zu werden. Aber das war nichts für ihn, also weiter in die Knorrstraße. Dort trinkt er jeden Abend um die fünf Bier. Das darf er, das ist okay, Hauptsache, er hat am nächsten Morgen 0,0 Promille. Täglich muss er pusten, nur ohne Restalkohol darf er arbeiten, so haben sie vereinbart. Das ist, sagt Tanja Frank, für manche besser als ganz ohne Alkohol.

Arbinger hat wieder Kontakt zu seinen Kindern, freut sich, dass sie was aus sich gemacht haben. Neulich waren sie zusammen grillen, das geht jetzt wieder, sagt er. Über seine Zeit im Wald reden sie nicht. Aber er will erzählen, auch öffentlich, im Video. Einmal hatte er kein Zündholz mehr, um sich Feuer zu machen. Da lief er zu einem Friedhof, weil da immer Kerzen brennen. Er nahm sich eine und lief zurück, kilometerweit, ganz behutsam, um die Flamme zu bewahren.

Die Installation ist bis Sonntag im Kunstpavillon, Sophienstraße 7a, zu sehen. Freitag 14 bis 20 Uhr, Wochenende 11 bis 20 Uhr.

© SZ vom 27.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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