Literatur:"Warum waren sie mir nie ein Vorbild?"

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Schreiben und Sezieren haben viel gemeinsam: María Sánchez ist Schriftstellerin und Tierärztin. Aktuell arbeitet die Spanierin als Stipendiatin der Villa Waldberta in Feldafing an einem neuen Gedichtband. Im Blessing Verlag hat sie gerade ihr Buch "Land der Frauen" vorgestellt. (Foto: José González)

Die spanische Schriftstellerin und Tierärztin María Sánchez hat ein Buch über und für die vergessenen Frauen auf dem Land geschrieben. Derzeit ist sie Stipendiatin der Villa Waldberta in Feldafing.

Von Jutta Czeguhn, München

Die Cabra Palmera ist eine Ziegenart, die nur auf La Palma vorkommt. Jetzt spuckt dort der Vulkan, das ist nicht nur ein Problem für die Menschen. Auch für die Ziegen, sie fressen kaum mehr. Wegen der "Ceniza", der Asche, die auf das Gras regnet. Die Tiere magern ab, geben keine Milch mehr. Keine Milch, kein Käse, keine Arbeit. María Sánchez hat während des Gesprächs in einem Raum des Münchner Kulturreferats immer auch ihr Handy im Blick, ab und zu tippen ihre Finger nervös ein paar schnelle Botschaften. Nicht aus Unhöflichkeit macht sie das. Aus der Ferne versucht sie, eine Fundraising-Kampagne zur Rettung der Cabra Palmera zu koordinieren. So ist es nun mal in ihrem Leben als Landtierärztin und Aktivistin, Schriftstellerin und Poetin. Das eine greift in das andere. Die akuten Probleme daheim - und die Zeit als Stipendiatin in der Villa Waldberta in Feldafing, die nun bald zu Ende geht.

Die 32-Jährige nutzt die ruhige, aber auch kreative Atmosphäre am Starnberger See, um an einem neuen Gedichtband zu arbeiten. Zudem sammelt sie weiter Stimmen für ihr Projekt " las entrañas del texto ". Sie bringt Schriftstellerinnen und Künstlerinnen dazu, sich in die "Eingeweide" ihrer Arbeit blicken zu lassen. Sie selbst hat in München gerade ihr viel beachtetes Buch "Land der Frauen" vorgestellt. Darin greift sie selbst tief in den Bauch der eigenen Familie, aber auch der spanischen Gesellschaft. So tief, bis es weh tut.

Die Frauen im Schatten der Männer

Die leidenschaftliche Unbedingtheit von "Land der Frauen", erschienen im Münchner Blessing Verlag und übersetzt von Petra Strien, kann einen leicht mit sich fortreißen. "Für meine Familie und all jene, die den Boden bestellen und bewahren und dafür nie Anerkennung erfahren haben" - diese Ansage ist mehr als eine Widmung, denn Sánchez schreibt genau über diese Menschen. Vor allem über die Frauen in Spaniens ländlichen Regionen, über ihre Mutter, Großmutter und Urgroßmutter. Das Buch ist ehrliche Selbstbefragung und nachgetragene Liebe, denn auch María Sánchez hat sich eingestehen müssen, dass für sie diese Frauen unsichtbare Geister waren, immer im Schatten ihrer Männer. "Warum waren sie mir nie ein Vorbild?" Eine Frage, mit der sie bei ihrem Lesepublikum in Spanien einen wunden Punkt getroffen hat. Für Sánchez waren es erst die Demenzerkrankung und der Tod ihrer Großmutter Teresa, die sie näher hinschauen ließen und ihr den Mut gaben, "ohne Scheu" Fragen zu stellen - , "bevor die Bilderrahmen in unserer Häusern verwaisen, verstummen, verlöschen..."

Sánchez hat sich eingereiht in eine Genealogie der Männer. Der Großvater Tierarzt, der Vater, und nun sie selbst. Eine schreibende Veterinärin allerdings. Als Studentin kam sie ihren Kommilitonen wunderlich vor, weil sie in den Vorlesungspausen ihre Nase in Gedichtbände steckte. Auch sie selbst empfand sich als Exotin, nur der Seziersaal wurde ihr "zum Ort der Ruhe und des Rückzugs". Schreiben und Sezieren, sagt Sánchez, hätten sehr viel gemeinsam. "Sowohl mit Worten als auch mit dem Skalpell tastet man sich nach dem Prinzip Versuch und Irrtum vor." So ist "Land der Frauen" ein Essay mit einer Ich-Stimme in wechselnden Tonlagen geworden.

Das Landleben als Anti-Idyll

Mal scheint die Schriftstellerin ihrem Namensvetter, Ministerpräsident Pedro Sánchez, ins Gewissen zu reden. Im Duktus einer politischen Rede beklagt sie die Situation der Landbevölkerung, das Aussterben der Dörfer, den Verlust von Sprache und Traditionen. Sie selbst lebt inzwischen als selbstständige Veterinärin wieder in einem Dorf und sieht sich als Teil einer Minderheit. Nur 2,2 Prozent Frauen seien - zumindest offiziell - im Sektor "Viehzucht, Forstwirtschaft und Fischerei" beschäftigt. Ihre Doppelbelastung mit Familie und Hof werde nicht anerkannt. Auch die Situation der Arbeitsmigrantinnen prangert sie an. In ihren messerscharfen Analysen zum Machismo, der Rolle der Katholischen Kirche oder der Franco-Diktatur macht sie vor dem Feminismus keinesfalls Halt, der in Spanien überwiegend in den Metropolen stattfindet. Und María Sánchez kritisiert die Romantisierung des Landlebens durch die Städter - ein Phänomen, das sich im Zuge von Corona noch verstärkt haben dürfte.

Sánchez fordert einen ehrlichen Blick auf das Landleben, besonders auf das der Frauen. Sie beschreibt deren Dasein als entbehrungsreiches Anti-Idyll und findet gerade hier im Buch zu einer poetischen Sprache. Etwa, wenn sie die Geschichte ihrer Urgroßmutter Pepa erzählt, der "pulsierenden Hauptschlagader" ihrer Familie, die die Korkeichen auf ihrem Land liebte. Oder wenn sie ihrer noch lebenden Großmutter Carmen ein Denkmal setzt, "die gerade mal eine paar Tage die Schule für Analphabeten besucht hat, dann musste sie abgehen, um ihrer Familie bei der Landarbeit zu helfen". Zärtlich blickt María Sánchez auch auf das Schicksal ihrer Mutter, die einen hohen Preis dafür bezahlt hat, dass aus ihren Kindern etwas wurde. "Unabhängigkeit, Bildung oder Entscheidungsfreiheit blieben ihr versagt."

Für Mutter und Großmutter, sagt Sánchez, sei sie "der Spiegel, für das, was sie nicht werden konnten". Das klingt bitter und hoffnungsvoll zugleich. Ihr leidenschaftlicher Essay hat in Spanien nicht nur in den Städten und den politischen Zirkeln Aufsehen erregt; die Landfrauen selbst fühlen sich mit diesem Buch endlich gesehen. María Sánchez, die Poetin und Aktivistin, hat sich eingeschrieben in die weibliche Linie ihrer Familie. Sollte sie selbst Kinder haben, werde sie ihnen die Chance geben, auch auf dem Dorf aufzuwachsen. Doch eines weiß sie mit Bestimmtheit: "In der Literatur wie auf dem Land sollte man, glaube ich, nichts überstürzen."

Deutsche und spanische Lyrik im Online-Gespräch, Mo., 29. Nov., 19.30 Uhr, Instituto Cervantes. Die Gäste der Villa Waldberta aus Spanien, María Sánchez, Xuan Bello und Alba Cid diskutieren mit den Münchner Dichtern Daniel Bayerstorfer, Sophia Klink und Slata Roschal, https://munich.cervantes.es .

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