Bouldern:Am Hang entstehen Freundschaften

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Seit 1997 gibt es die Kletteranlage in Taufkirchen, die vom Einsatz vieler Freiwilliger getragen wird. Das war nicht immer so - zwischendurch geriet der Turm sogar in Vergessenheit.

Von Conie Morarescu, Taufkirchen

"Alles im Leben befindet sich im Kreislauf. Es gibt kein Anfang und Ende", sagt Stefan Billmeier. Seine Hände sind weiß gepudert vom Magnesium, seine sehnigen Unterarme stechen ins Auge, wenn er beim Sprechen gestikuliert. Der 42-Jährige liegt auf der weichen Matte und betrachtet die bunten Kunststoff-Griffe, die in der waagrechten Decke über seinem Kopf hängen.

So gut wie die gesamte Fläche ist bedeckt mit Griffen in verschiedenen Größen und Formen: Bierhenkel, Halbkugeln, organisch fließende Schwulste. Die Grundidee für die Form des künstlichen Boulderblocks in der Taufkirchner Kletteranlage stammt von Billmeier selbst.

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Inspiriert wurde er von einem Vorbild aus der Natur, das sich auf einem anderen Kontinent befindet: Eine riesige Höhle in Thailand mit einem zwanzig Meter langen Dach. Dort hat Billmeier viele Monate zugebracht, hat Routen erschlossen und dokumentiert. Am liebsten bouldert er am Felsen. Bouldern, das ist eine Spielart des Kletterns, bei dem der Kletterer keine Sicherung benötigt, weil er nicht allzu hoch hinaufsteigt. "Alles ist im Kreislauf, das nehmen heute viele Menschen nicht mehr wahr. Sie denken, ihr Verhalten in der Natur hat keine Auswirkungen", sagt Billmeier. Vielleicht sind seine Überlegungen bei der Idee für den Boulderblock miteingeflossen. Dieser ist als liegende Acht angelegt, die man theoretisch unendlich lange kletternd umrunden kann.

Im Jahr 2003 hat Billmeier mit dem Klettern angefangen, am Kletterturm in Taufkirchen. Bis heute prägt diese Leidenschaft sein Leben und lässt ihn nicht los. Doch seitdem hat sich auch viel verändert. Für die einen bedeutet Klettern weit mehr als Sport: Es verkörpert Werte. Für andere ersetzt die Boulderhalle das Fitnessstudio.

Als Klettern noch kein Breitensport war und kaum jemand etwas mit dem Begriff "Bouldern" anfangen konnte, da wunderte sich mancher Spaziergänger über merkwürdig strukturierte Betonwände mitten in Thalkirchen. Ein paar Berg-Verrückte trainierten dort für die anstehenden Klettertouren im Fels. Jeder kannte jeden und sie alle verband die Liebe für die Berge und für diesen spannenden Sport, der ein Leben lang nie langweilig wird.

Dieses Vergnügen erkannten schließlich immer mehr Menschen. Die Anlage in München reichte bald nicht mehr, immer mehr Interessierte kamen, es wurden immer mehr Hallen gebaut und das Familiäre trat in den Hintergrund. Heute gibt es zahlreiche Kletter- und Boulderhallen in der Landeshauptstadt und im Umland. Kurz vor dem zweiten Lockdown eröffnete etwa in Brunnthal die Boulderwelt Süd, eine weitere große kommerzielle Boulder-halle.

Stefan Billmeier, Tobias Epple und Georg Weidenspointner (von links) vor ihrem Boulder-Turm in Taufkirchen. (Foto: Claus Schunk)

Acht Jahre nachdem die erste Münchner Beton-Kletteranlage in Thalkirchen errichtet worden war, stellte die Gemeinde Taufkirchen einen Kletterturm in der kommunalen Sportanlage auf. Das war im Jahr 1997. Die Firma "T-Wall" errichtete das Bauwerk. Damals eine Neuheit in München: Der Turm bestand nicht aus Beton, sondern aus organisch geformtem Kunststoff, überzogen mit einer rauen Oberfläche, die den Kletterschuhen Reibung und Halt bietet.

Eine Weile lang wurde er genutzt, bis er schließlich etwas in Vergessenheit geriet. Anfang des Jahrtausends kehrte dann wieder Leben am Turm ein. Er zog ein paar Kletterbegeisterte aus dem Münchner Süden an, sie lernten sich dort kennen und wurden dann auch gute Freunde. Formal organisierten sie sich als Klettergruppe innerhalb der Ortsgruppe Taufkirchen des Deutschen Alpenvereins (DAV) und begannen, die Anlage zu verwalten. Zu ihnen gehörte auch Tobias Epple aus Oberhaching, der die Klettergruppe heute leitet und sich um das Organisatorische kümmert.

Wie Epple sich erinnert, stellten die Kletterer bald fest, dass der Turm nicht mehr den gängigen Sicherheitsstandards entsprach. Ihm fehlte etwa ein Dach, Regenwasser umspülte die Schrauben und Muttern, das Material rostete vor sich hin. Außerdem benötigten die Freunde eine Hütte, um Material für die Jugendarbeit unterzubringen. Und es gab keine Möglichkeit, ohne Seilpartner zu trainieren. Schon damals stellten sie fest: Ein Boulderblock würde die Anlage sehr bereichern.

"Wir hatten im Gemeinderat viele Unterstützer, in allen Fraktionen", erinnert sich Epple, der bei der Antragstellung für den Ausbau der Anlage stark beteiligt war. Die Kletterer legten ein schlüssiges Finanzierungskonzept vor: Indem jeder, der die Anlage nutzt, eine jährliche Gebühr leiste, könne die benötigte Summe innerhalb von 20 Jahren wieder zurückgezahlt werden. 2006 erklärte sich die Gemeinde dazu bereit, zu investieren.

Das Ergebnis: Der Turm wurde auf elf Meter erhöht und überdacht, eine Blockhütte wurde errichtet und schließlich das Grundstück erweitert, um Platz für den Boulderblock zu schaffen. Stefan Billmeier fertigte Skizzen an und baute ein Gipsmodell, um seine Vorstellungen zu veranschaulichen. Gemeinsam tüftelten die Freunde an dem Entwurf, modellierten am Computer 3D-Modelle. Sie arbeiteten eng mit der Firma T-Wall zusammen. Diese realisierte schließlich den Block, der auf zwei versetzten Fundamenten steht, verbunden durch eine dynamisch geschwungene Brücke. Die Kletterer packten selbst mit an, als der Block aufgestellt wurde, unzählige freiwillige Arbeitsstunden flossen mit ein. Billmeier nahm sich eine Woche Urlaub und übernachtete in der Hütte. Das sei eine sehr arbeitsintensive Zeit für alle Beteiligten gewesen, sagt Tobias Epple.

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Ohne die Selbstinitiative der Kletterer gäbe es die Anlage in dieser Form heute sicher nicht. "Hier geht es nicht darum zu konsumieren, das ist keine Serviceleistung wie in den kommerziellen Hallen. Wir packen mit an, mähen Rasen, halten die Anlage in Schuss", sagt Billmeier. Ein Geben und ein Nehmen, ein Kreislauf, von dem alle profitieren.

Doch das Geben bezieht sich nicht nur auf die Klettergemeinschaft selbst, vor der Pandemie fanden Kurse für Kinder und Kletter-Projekte zusammen mit Schulen aus der Umgebung statt. Einmal jährlich gibt es einen Tag der offenen Tür und ein Turmfest. Jeder ist dort willkommen, sich ans Seil zu hängen und seine Höhenangst zu erproben.

Und bis heute wird der Turm gerne genutzt, obwohl er nicht das kommerzielle Vergnügen der großen Kletterhallen bietet. Weniger Routenauswahl und eher anspruchsvolle Kletterei, die mehr Kreativität erfordert: Es wird nicht nur an den Plastikgriffen geklettert, sondern viel an der Struktur der Wand, was dem Felsklettern näherkommt. Trotzdem: Von den 200 Schlüsseln, die an die Nutzer der Anlage vergeben werden, sind nur noch zehn Stück übrig.

Georg Weidenspointner wurde vor vielen Jahren von einem Freund zu der Anlage mitgenommen. Und bald gehörte auch er wie selbstverständlich zur Taufkirchner Klettererfamilie. "Es ist einfach toll, hier am Abend oder Wochenende mit Freunden im Freien klettern zu können", berichtet der 52-jährige Bergsteiger, der ursprünglich aus dem Berchtesgadener Land stammt. Das Familiäre, das noch so selbstverständlich war in der Geburtsstunde des lokalen Klettersports, in Taufkirchen atmet es noch immer.

© SZ vom 04.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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