NS-Verbrechen:Aus der Täter- und Opferperspektive

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Ungewöhnliche Matinee: Im Kleinen Theater in Haar diskutieren Kultur- und Kunstschaffende am Sonntagvormittag über den Umgang mit den NS-Euthanasie-Morden in Literatur, Film und Theater am Beispiel des von den Nazis ermordeten Jungen Ernst Lossa. (Foto: Stephan Rumpf)

Wie gehen Literatur, Film und Theater mit den Euthanasie-Morden der Nazis um? Darüber diskutieren im Kleinen Theater in Haar Kultur- und Kunstschaffende am Beispiel des Jungen Ernst Lossa. Bei allen Unterschieden sind sie sich in einer Hinsicht einig.

Von Lydia Wünsche, Haar

Es ist das Bild aus der Krankenakte, das den Anstoß gegeben hat. Das Foto von dem Jungen mit den traurigen Augen. Da sind sich die drei Teilnehmer der Podiumsdiskussion "Die NS-'Euthanasie' in Literatur, Film und Theater" im Kleinen Theater Haar einig. Veranstaltet wurde das Gespräch am Sonntag vom Zentrum Erinnerungskultur der Universität Regensburg im Rahmen des Publikationsprojekts "Den NS-Krankenmord erinnern". Der Veranstaltungsort war bewusst gewählt, denn auch in der einstigen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar wurden in der NS-Zeit systematisch kranke Menschen ermordet. Die Teilnehmer dieser ungewöhnlichen Sonntags-Matinee waren der Schriftsteller Robert Domes, die Theaterintendantin Kathrin Mädler und der Filmproduzent Ulrich Limmer.

Alle drei haben sich auf ihre Art und Weise mit dem Fall Ernst Lossa beschäftigt. Dieser wurde 1942 als 13-Jähriger in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen, weil er als schwer erziehbar galt. 1944 wurde er durch eine Überdosis Morphium ermordet - und damit eines der vielen Opfer des sogenannten Gnadentodes des NS-Regimes. Robert Domes recherchierte die Geschichte und veröffentlichte 2008 den dokumentarischen Roman "Nebel im August". 2016 wurde er zur literarischen Vorlage des gleichnamigen Films und 2018 brachte das Landestheater Schwaben die Geschichte von Ernst Lossa erstmals auf die Bühne.

Der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Jörg Skriebeleit (stehend) sagt, es sei eine politische Entscheidung, wie viel Geld die Aufklärungsarbeit der Gedenkstätten dem Bund wert ist. (Foto: Stephan Rumpf)

Drei unterschiedliche Medien, die sich mit einer Geschichte befassen. Über ein "Zigeunerkind" aus einer Familie von Jenischen, das der Tötungsmaschinerie der Nazis zum Opfer fiel. Bei der Podiumsdiskussion sprechen die drei Künstler mit der Moderatorin Despina Grammatikopulu von BR2 Kultur über ihre unterschiedlichen Herangehensweisen.

"Immer wenn der Mut nachließ, dann war es sein Bild, das mich motivierte", sagt der Filmproduzent Ulrich Limmer. "Für mich war es eine Verpflichtung, diesen Film zu machen." Ähnlich erging es dem Schriftsteller Robert Domes, als er auf die Geschichte von Ernst Lossa stieß. "In seinem Gesicht sah ich viele Fragen und eine tiefe Verlorenheit. Er wurde aus seiner Familie gerissen, sehnte sich nach Nähe und Zuneigung. Und erfuhr genau das Gegenteil: Ablehnung, Herabwürdigung und am Ende sogar Mord."

Damals war Domes Lokaljournalist in Kaufbeuren und wollte einen journalistischen Artikel über Ernst Lossa schreiben. Doch je tiefer er sich in Lossas Leben hineingrub, desto klarer wurde ihm, dass er einen Roman schreiben wollte. Sechs Jahre dauerte der Schaffensprozess und einen großen Teil davon nahm die Frage ein: Wie schreibt man so etwas? Was wird meinem Protagonisten gerecht?

"Der Rede vom unreinen Zigeunerkind, das lügt und stiehlt, wollte ich meine Sichtweise entgegenhalten."

Schließlich entschied Domes sich dafür, den Blinkwinkel von Ernst Lossa selbst einzunehmen. Ihm quasi eine Kamera auf die Schulter zu setzen, die alles, was er erleben musste, mitschnitt. Und das war ein Leben, das immer nur bergab ging. "Ich wollte eine emotionale Perspektive ergreifen", so Domes. "Denn aus den Akten hat man Lossas Leben bis dato nur aus der Täterperspektive kennengelernt. Da war von dem unreinen Zigeunerkind die Rede, das lügt und stiehlt. Dem wollte ich endlich mal seine Sichtweise entgegenhalten."

Auch der Filmproduzent Ulrich Limmer versuchte vor allem Ernst Lossa eine Stimme zu geben. Selbst wenn die stilistischen Mittel im Film ganz andere sind. "Im Gegensatz zum Roman konnten wir nicht die Gedanken und Gefühle von Ernst Lossa in Worte fassen. Wir haben versucht, mit genauen Szenenbildern und der großartigen schauspielerischen Leistung von dem Hauptdarsteller Ivo Pietzcker zu überzeugen."

Die größte Perspektivverschiebung fand dann in der Theaterinszenierung statt. Dort wurde der Fall Ernst Lossa wieder vor Gericht gebracht. Die Prozessakten der Nürnberger Prozesse, in denen der Fall damals behandelt wurde, waren dabei ausschlaggebend. "Wir wollten uns der Frage nach der Schuld nähern, statt uns in der moralischen Sicherheit der Opferperspektive zu wiegen", sagt Intendantin Kathrin Mädler. Sie weiß, dass es ein gewagtes Unterfangen war, so an die Geschichte heranzugehen. Denn sie rückt wieder die Täterperspektive in den Vordergrund. Doch sie ist der Meinung, dass Kunst Mut haben muss. Den Mut, eine Haltung zu finden und diese sichtbar zu machen.

Die sechs Theaterdarsteller sollten sich bewusst nicht in die Figuren, die sie darstellten, einfühlen, sondern mit ihrer Spielart die menschliche Distanz und Systematik der NS-Krankenmorde zum Ausdruck bringen. Theater soll nach Mädlers Meinung zwar nicht moralisieren, aber durchaus Fragen aufwerfen. "Keiner von uns kann mit Sicherheit sagen, wie er in der damaligen Zeit mit den Geschehnissen umgegangen wäre. Und es stellt sich immer die Frage: Was würdet ihr heute anders machen?", warnt sie.

Letztlich gehe es bei allen künstlerischen Produktionen immer um die Suche nach der inneren Wahrheit, so Limmer. Das bedeutete für ihn, zu zeigen, dass man auf der Seite der Patienten sei. "Denn es gibt kein Leben, das nicht schützenswert ist."

Großes Interesse an einem Sonntagmorgen: Gebannt verfolgen die Zuhörer im Café des Kleinen Theaters die Diskussion. (Foto: Stephan Rumpf)

Und dann stellt sich noch die Frage danach, wie viel Grausamkeit man dem Zuschauer zumuten darf. Es habe durchaus Menschen gegeben, die Angst davor hatten, sich den Film oder die Inszenierung anzusehen, weil sie nicht wussten, ob sie die dargestellten Grausamkeiten aushalten würden. Und warum sollte man sich heute überhaupt noch mit der Thematik beschäftigten? Eine gute Antwort darauf fand Domes für sich, als er mit seinem Roman wieder einmal in einer Schule unterwegs war. Nach seiner Lesung waren die Schüler fassungslos. Dies schlug irgendwann in Wut auf die Täter um, aber letztlich ging es in der Diskussion um die Frage: Wie gehen wir eigentlich heute miteinander um? Sind wir nicht auch alle Täter, wenn wir uns über jemanden lustig machen, der anders ist? "Das war gar nicht geplant, als ich den Roman schrieb", sagt Domes. Aber wenn er das erreichen konnte, dann habe es sich gelohnt.

Infos zum Buch: Robert Domes, Nebel im August: Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa, cbt Verlag, Penguin Random House, München, 2008, Taschenbuch, 7,99 Euro

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