Zeitzeugengespräch:"Dass ich Jude bin, war mir nie bewusst"

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Zeitzeuge Pavel Taussig im Gespräch mit Schülern an der Josef-Breher-Mittelschule in Pullach. (Foto: Claus Schunk)

Pavel Taussig ist einer von nur noch wenigen Holocaust-Überlebenden. Deshalb will der 89-Jährige seinen Beitrag leisten, jungen Menschen wie an der Pullacher Mittelschule von seinen Erfahrungen zu erzählen - auch wenn er lieber anderes täte.

Von Flavia Klingenhaeger, Pullach

So, wie sich Pavel Taussig am Freitagmorgen in der sonnigen Turnhalle der Josef-Breher-Mittelschule in den Sessel sinken lässt, könnte man meinen, der 89-Jährige sei hier, um den Schülern etwas über seinen letzten Urlaub in den Bergen zu erzählen. Als er die ersten Worte spricht, löst sich der Eindruck einer gemütlichen Erzählstunde jedoch sofort auf. Taussig ist an diesem Freitagmorgen in Pullach, um den Jugendlichen der zehnten Klassen vom dunkelsten Kapitel seines Lebens zu erzählen: von der Deportation und seiner Zeit im Konzentrationslager Auschwitz, von der Trennung von seiner Familie und der auf die Befreiung folgenden Flucht.

Taussig ist einer von nur noch wenigen lebenden Holocaust-Zeitzeugen - noch dazu, wie er sagt, einer derjenigen Überlebenden, die die Zeit bewusst erlebt hätten und sich gut daran erinnern könnten. "Wir werden einfach alle immer älter und älter, natürlich finden sich da immer weniger Überlebende, die den jungen Menschen von dieser schrecklichen Zeit erzählen können", sagt Taussig. Er wird oft gebeten, Vorträge wie in Pullach zu halten, und ist sich seiner wichtigen Rolle deutlich bewusst: "Man versteht die Geschichte immer besser, und vor allem auf einer tieferen emotionalen Ebene, wenn einem jemand von Ereignissen berichtet, die er selbst erlebt hat. Ich bin froh, dass ich meinen Teil dazu beitragen kann."

"Eigentlich möchte ich nicht so viel über diese Zeit sprechen."

Trotzdem werde es für ihn von Mal zu Mal zu einer größeren Überwindung, in solcher Ausführlichkeit über sein Schicksal zu sprechen. "Ich möchte meine letzten Lebensjahre nämlich eigentlich nicht damit verbringen, so viel über diese Zeit zu sprechen, sondern die Zeit, die mir noch bleibt, genießen."

Als er anfängt zu erzählen, wird es ganz still in der Pullacher Turnhalle, die Schüler hören dem alten Mann aufmerksam zu. Taussig, 1933 in Bratislava als Sohn jüdischer Eltern geboren, spricht über seine Kindheit. Das Thema "Judentum" sei in seinem Elternhaus nie ein großes Thema gewesen, erklärt er, seine Eltern hätten die von Hitler ausgehende Gefahr allerdings früh erkannt und sich und den Jungen noch vor den Rassengesetzen evangelisch taufen lassen. "Dass ich selbst Jude bin, war mir nie bewusst," erzählt er.

Bald ist er in seinen Erzählungen bei den Ereignissen vom Herbst 1944 angelangt. Während die Taussigs es geschafft haben, den Großteil des Krieges unentdeckt zu bleiben, werden Pavel und seine Eltern im Oktober 1944 schließlich doch nach Auschwitz deportiert. In der Turnhalle ist es plötzlich nicht mehr so sonnig wie zu Beginn des Vortrages, es hat sich eine Wolkenfront vor die Sonne geschoben, wie um die Schwere von Pavel Taussigs Geschichte zu untermalen. Die Familie hat, allen Gefahren zum Trotz, das Glück auf ihrer Seite: In Auschwitz rechnet niemand mehr mit Neuankömmlingen, die Gaskammern und Krematorien sind schon abgebaut.

Die nächsten Monate werden trotzdem lebensgefährlich für Pavel und seine Eltern: Sie müssen in verschiedenen Baracken arbeiten, der Vater erkrankt schwer und wird in einen Krankenbau verlegt. Die Mutter muss in einem Munitionslager arbeiten. Für den elfjährigen Pavel sind die darauffolgenden Monate geprägt von Hunger, Krankheit und Todesmärschen. Im Mai 1945 wird er gemeinsam mit anderen Jungen aus dem Lager Brunnkirchen befreit - abgemagert, nur noch mit Lumpen bekleidet und eine an einer schweren Tuberkulose leidend, aber er lebt.

Auschwitz überlebt und dann an Tuberkulose sterben? "Ich dachte: Es hakt!"

"Als mich der Arzt mit Tuberkulose diagnostizierte und mir sagte, ich sei praktisch dem Tod geweiht, da dachte ich mir, es hakt," erzählt er heute lachend. "Da hatte ich dieses unmögliche Schicksal überlebt und sollte jetzt einfach sterben?" Pavel Taussig verbringt einige Monate in verschiedenen Krankenhäusern, bis er auf einen Tipp eines alten Bekannten hin zurück nach Bratislava reist, um seine Eltern zu finden. Dem 89-Jährigen bricht die Stimme, als er von dem Wiedersehen mit seinem Vater erzählt: "Ich habe nicht geglaubt, dass er noch lebt," sagt er mit Tränen in den Augen, "und er hat auch nicht gedacht, dass ich lebend nach Hause zurück komme."

Nachdem Taussig seine Geschichte beendet hat, ist es sehr still in der Turnhalle, als ob die Jugendlichen seine äußerst authentisch erzählte Lebensgeschichte erst einmal sacken lassen müssen. Dann brandet Applaus auf. Viele der Fragen, die sich die Schüler vorher überlegt haben, hat der Holocaust-Überlebende durch seine detailreichen Erzählungen schon beantwortet. Etwas, worüber er noch nicht gesprochen hat, ist die Frage aus dem Publikum, wie es sich für ihn anfühle, so ausführlich über sein Schicksal zu sprechen. "Ich habe jahrzehntelang mit niemandem darüber gesprochen, weil ich das Gefühl hatte, es interessiert die Leute einfach nicht," antwortet er. "Für viele waren 'die Juden' einfach immer nur eine Statistik - keine echten Menschen wie ihr und ich." Deshalb fühle es sich jetzt wie eine Befreiung an, so Taussig, "auch wenn es mir immer noch weh tut, davon zu berichten".

"Ich finde es super, dass Herr Taussig heute da war," findet Dominik, einer der Schüler. "Klar wissen wir alle, was im Holocaust passiert ist, aber so eine persönliche Erzählung macht mir noch einmal ganz anders bewusst, dass wir alles dafür tun müssen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt." "Auch dass er so detailreich erzählt hat," meint Alex, ein anderer Schüler, "das schätze ich total. Das ist echt nicht selbstverständlich."

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