Auf dem Weg zu den Invictus Games:"Ich brauche Action"

Lesezeit: 5 min

Julia Eyrich, Doktorandin an der Universität der Bundeswehr und Teilnehmerin der diesjährigen Invictus Games. (Foto: Claus Schunk)

Nach einem schweren Unfall sitzt die Bundeswehroffizierin Julia Eyrich im Rollstuhl. Sie kämpft sich zurück ins Leben - und in den Sport.

Von Sabine Buchwald

Ihr Fahrrad ist fast immer dabei. Es steht in Julia Eyrichs Büro gleich hinter ihrem Schreibtischstuhl. Es ist ein dottergelbes Rad mit dünnen Reifen und Hörnchenlenker, ohne Firlefanz wie Schutzblech oder Licht. "Das Fahrrad ist mein bester Freund", sagt Eyrich. Ein Freund, der sie zurückgebracht hat ins Leben. Im Februar 2019 hatte Eyrich einen schweren Unfall, der viel verändert hat. Konstant geblieben sind ihr Arbeitgeber, die Bundeswehr, und ihr starker Wille. Schaffen, was sie sich vorgenommen hat, das treibt die 30-Jährige an.

Es war ein Skiunfall. In voller Fahrt kam Eyrich von der Piste ab, überschlug sich, blieb an einem Abhang liegen. Ihre Erinnerungen daran sind nur vage, Fakt ist: Ihre Retter fanden sie mit angeschnalltem Ski am rechten Fuß. Die Bindung hatte sich nicht geöffnet. Nach dem Sturz war ihre Sportuhr zertrümmert und schlimmer: die rechte Kniescheibe. Die Uhr zeigte 70 Stundenkilometer an, ihr Körper, wie verletzlich er ist. Eyrich war übersät von Blutergüssen und sie hatte innere Blutungen.

"An diesem Tag ist mein Leben zum ersten Mal zum Stillstand gekommen", sagt sie. Eine Woche lag sie auf der Intensivstation. Erst im Mai, als die Schwellungen zurückgegangen waren, konnte sie operiert werden. Was Eyrich nicht wusste: Sie gehört zu den Menschen, die nach einer Gelenk-Operation schwere Arthrofibrose entwickeln. An den Narben bildete sich immer mehr Bindegewebe, das verletzte Knie wurde immer dicker. "Es war kaum mehr als Knie erkennbar." Sie musste mehrmals unters Messer. Bei einer Operation wurden fünf Kilogramm Gewebe entfernt. Nicht alles lief glatt auf den OP-Tischen.

Eyrich ist Bundeswehrangehörige und wurde überwiegend von Bundeswehrärzten behandelt. Es ist ihr unangenehm, darüber zu sprechen, sie möchte niemanden öffentlich beschuldigen. Zwei Eingriffe sind aber mittlerweile als Operationsfehler anerkannt. Eyrich konnte kaum noch laufen, saß im Rollstuhl und lebte mit Dauerschmerzen, gegen die sie Opiate verschrieben bekam. Irgendwann hörte sie von einem Mediziner: "Akzeptieren Sie, dass Sie sich nicht mehr ohne Hilfsmittel fortbewegen können." Dieser Satz ist ihr ins Mark gefahren. Sie fühlte sich zu jung für eine solche Diagnose.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

Ein erster Schritt war, sich von den Medikamenten zu befreien. Zu Hause quälte sie sich durch den Entzug. Schwitzend und appetitlos, 14 Tage lang. Und sie suchte nach einer anderen ärztlichen Meinung. Die fand sie Ende 2021 bei dem Sportorthopäden Andreas Imhoff am Klinikum rechts der Isar. Zu ihm kommen Sportler aus der ganzen Welt. Am Eingang seiner Abteilung hängen Fotos von dankbaren Fußballstars. Was hat der Professor gemacht? Eyrich zählt auf: das Kreuzband entfernt, Schrauben rausgenommen, anderes Material verwendet, ganzheitlich behandelt. Das alles hat sie selbst bezahlt, dafür gingen ihre Ersparnisse drauf. Doch mit der Operation in München kam die Wende.

Julia Eyrich trainiert hart, um ihre Beweglichkeit wiederzuerlangen. (Foto: privat)

Man trifft sie in ihrem Arbeitszimmer an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg (UniBW). Ein Raum am Ende eines Ganges, den sie sich mit einer Kollegin teilt. Eyrich trägt enge Jeans, einen Pullover, die schulterlangen braunen Locken mit Gel gebändigt. Sie ist 1,64 Meter groß. Das Fahrrad, ihr Freund, wirkt fast wuchtig neben ihr. Im unteren Fach eines Regals liegt ein Helm mit Camouflage-Überzug, ein Hinweis auf die Soldatin. Auf Eyrichs Schreibtisch steht eine Tasse mit der Aufschrift "Die Eismeile". Manche Freunde nennen sie so: Julia, die Eismeile. Die Tasse soll sie motivieren, die 1609 Meter zu schwimmen, im Winter.

Anders als früher ist nun Wasser Julia Eyrichs Element. (Foto: privat)

Sobald es ihr Knie zuließ, hat sich Eyrich sportlich erneut herausgefordert. Sie suchte den Adrenalinkick, den sie seit ihrer Kindheit kennt. Mit drei stand sie zum ersten Mal auf dem Fußballplatz. Mit 13 schaffte sie es in die Jugendfußballnationalmannschaft. "Fußball war mein Leben", sagt Eyrich. Der Dienstunfall hat ihr das Fußballspielen genommen. Sie kann nicht mehr sprinten, nicht mehr hüpfen, nicht mehr lange auf einem Bein stehen. Auch als Soldatin ins Gelände gehen mit Rucksack und Gewehr ist nicht mehr möglich. Aber sie kann wieder gehen - und sie kann Radfahren und schwimmen. Wasser war vorher nie ihr Element gewesen, im Winter schon gar nicht. Im österreichischen Wörthersee schaffte sie auf Anhieb 500 Meter bei Temperaturen um die fünf Grad. Das qualifiziert sie nun für die Eismeile.

Vergangenen Sommer durchquerte Eyrich den Starnberger See von Seeshaupt nach Percha. Ein Bekannter begleitete sie im Ruderboot. Die beiden machten unfreiwillig Umwege. "Nach 20 Kilometern wurde es hart", erzählt Eyrich. Zehn Bananen und zwölf Energieriegel hatte sie bis dahin im Wasser verdrückt. Nach neun Stunden und 45 Minuten erreichte sie das Ufer. Für den Muskelaufbau fährt Eyrich so oft sie kann mit dem Rad. Über ihre Alpenüberquerung auf dem Rad von München nach Venedig sagt sie heute: "Das war wohl nicht ganz so klug."

Eine heftige Herausforderung: von München nach Venedig mit dem Rad. (Foto: privat)

Einen Tag vor jenem Unfall im Februar 2019 hatte Eyrich erfahren, dass die UniBW sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin angenommen hatte. Ein Wunsch hatte sich erfüllt. Am Morgen danach ging es mit den Kameradinnen und Kameraden in den "Winterkampf", zum Skiausflug. Eine teambildende Maßnahme. Die Soldatin hatte sich auf den Tag in der Natur gefreut. Sie liebt den Wettkampf, sie will die Beste sein. Wäre sie sonst so schnell gefahren?

Julia Eyrich will immer ihr Bestes geben. (Foto: Claus Schunk)

"Ich brauche Action", sagt Eyrich. Sie wollte einen Job, der sie physisch und kognitiv fordert. Aufgewachsen ist sie mit vier Geschwistern im hessischen Eschwege, da lernt man wohl, sich durchzusetzen. Mit 18 schrieb Eyrich ihr Abitur, noch im selben Sommer ging sie zur Bundeswehr. Erste Station war Munster bei Soltau als Offizieranwärterin. Sie fühlte sich in eine neue Welt katapultiert, zum ersten Mal länger von der Familie getrennt. Jetzt ist Eyrich die erste militärische Doktorandin am Institut für Journalistik der Fakultät für Betriebswirtschaft. Schon bald nach dem Unfall hat sie mit ihrer Dissertation begonnen, zwischen Krankenhaus und Rehaklinik.

"Das Fahrrad ist mein bester Freund", sagt die Frau Hauptmann. (Foto: privat)

Von 2012 bis 2015 studierte Eyrich an der UniBW Management und Medien. In der Bundeswehr kletterte sie kontinuierlich in der Hierarchie nach oben. Mit 24 hatte sie ihren ersten Führungseinsatz bei den Streitkräften: als Zugführerin für das Personenschutz- und Zugriffswesen einer Feldjägereinheit. Wer Eyrich heute im Dienst anspricht, muss Frau Hauptmann zu ihr sagen. Die Entscheidung für die Bundeswehr sei die beste ihres Lebens gewesen, sagt sie. Die Arbeit an der Uni, die Forschung für die Doktorarbeit, die Kollegen haben sie aufgefangen. Sport, Bundeswehr und Wissenschaft, das seien die drei Säulen ihres Lebens, sagt sie. Es klingt wie der Werbesprech eines Recruiting-Büros.

Diesen September wird Eyrich bei den Invictus Games in Düsseldorf teilnehmen - in den Disziplinen Fahrradfahren und Schwimmen. Invictus wie unbesiegbar. Zwei Sportarten, für die es Ausdauer braucht und Leidensfähigkeit. "Früher habe ich Wasser gehasst", sagt Eyrich. Aber das Wasser hat sie getragen, als sie sich kaum noch bewegen konnte. Über therapeutisches Aquajogging ist sie zum Schwimmen gekommen. Mit Tutorials hat sie sich das Kraulen und Delfin beigebracht. Beim Freistil kann man die Beine weitgehend gerade halten. Nicht so bei Delfin, wenn der Oberkörper mit der Kombination des Beinschlags aus dem Wasser schnellt. "Naja, das sollte ich nicht zu häufig machen", sagt Eyrich und lacht. Sie trainiert mit dem Schwimmteam der Universität, da will sie wohl zeigen, was sie kann.

Die Invictus Games, 2014 initiert von Prinz Harry, finden zum ersten Mal in Deutschland statt. Mehr als 500 Soldatinnen und Soldaten aus etwa 20 Nationen, aber auch Feuerwehrleute und Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks werden dabei sein. Sie alle haben eine Beeinträchtigung aus einem Einsatz davon getragen, so wie Julia Eyrich, die offiziell als schwerbehindert gilt. Vor ein paar Tagen war sie zu Filmaufnahmen für ein Imagevideo in Köln. In einem älteren Video ist der Duke of Sussex beim Tischtennisspielen zu sehen.

Wenn sie nicht trainiert, sitzt die 30-Jährige an den letzten Seiten ihrer Doktorarbeit, für die sie sich mit friedensfördernder Kommunikation am Beispiel Afghanistans beschäftigt. Sie wertet den Bundeswehreinsatz dort in Hinblick auf die strategische Kommunikation aus. Ziel ist es, ein Konzept für künftige Einsätze zu entwickeln. Sie hält Vorträge darüber, das Verteidigungsministerium und die Nato interessieren sich dafür. Wie es für sie beruflich weitergeht, ist noch offen. Eyrich würde gerne Professorin werden. Im Augenblick sieht sich als Botschafterin, als Vorbild. Doch nicht jeder ist so ehrgeizig wie sie. Immerhin hat sie gelernt, Unterstützung zu akzeptieren. "Die wahre Stärke ist, Hilfe anzunehmen", sagt Eyrich. Das weiß sie aber erst seit ihrem Unfall.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: