Familiennachzug:Fatemas großes Glück

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Seit September ist die Familie von Fatema (links) wieder vereint. (Foto: Robert Haas)

Fünf Jahre war die afghanische Jugendliche von ihrer Familie getrennt, versteckte sich im Iran und wäre beinahe gestorben. Dann wurde der Familiennachzug neu geregelt. Nun beginnt ihr neues Leben in Pullach.

Von Anna Hoben

Fatema sitzt an einem Tisch in einer Pullacher Kinderkrippe. Sie grinst, ein zartes Teenagermädchen mit Rissen in der Jeans, einem silbernen Einhorn auf dem T-Shirt und einem rosa Schal, den sie mal um den Hals trägt, mal locker über den Kopf gelegt. Wie es ihr gehe? "Gut, danke", sagt sie, akzentfrei und ein bisschen aufgeregt. In drei Wochen feiert sie ihren 17. Geburtstag. Noch vor einem halben Jahr sah es nicht so aus, als würde sie diesen Geburtstag erleben. Ihr Vater, der hier in der Krippe arbeitet und nun Feierabend hat, streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Im vergangenen August berichtete die Süddeutsche Zeitung zum ersten Mal über Fatema. Damals lebte sie in Teheran, ein afghanisches Flüchtlingsmädchen, das während der Flucht mit elf Jahren an der iranisch-türkischen Grenze von seiner Familie getrennt worden war. In der iranischen Hauptstadt kam sie bei ihrem Onkel und dessen Familie unter. Es sollte eine vorläufige Lösung sein, bis die Eltern, ihr Vater und ihre Stiefmutter, sie zu sich holen würden. Adnan M. und seine Frau Amina blieben zunächst in Istanbul; weil die Abschiebung zurück nach Iran drohte, setzten sie die Flucht fort. Im Mai 2015 erreichten sie Deutschland. Während die Familie Deutsch lernte und aus der Gemeinschaftsunterkunft in Pullach in eine eigene Wohnung zog, begann der Kampf um Fatema.

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Der Vater findet einen Minijob als Küchenhelfer in der Kinderkrippe, deren Leiterin, Bettina Knitter, eines Tages von seiner Tochter in Teheran erfährt, von seiner Angst um sie, von seiner Verzweiflung. Knitter beschreibt Adnan M. als großzügigen, fleißigen und herzlichen Menschen, die Kinder in der Krippe liebten ihn. Sie will ihm helfen. Fortan unterstützt sie ihn gemeinsam mit Doris Thurner vom örtlichen Helferkreis für Flüchtlinge in seinem sehnlichsten Wunsch, Fatema endlich wieder zu ihrer Familie zu holen. Damals ahnen sie noch nicht, wie viel Geduld sie brauchen werden. Die Mühlen der Behörden mahlen langsam, sehr langsam.

Von 2017 an lebt Fatema in Teheran ein Leben im Verborgenen. Die Familie ihrer verstorbenen leiblichen Mutter hat sie ausfindig gemacht und will sie mit einem mehr als doppelt so alten Mann aus der Verwandtschaft verheiraten. Der Gedanke daran zerreißt ihren Vater fast; auch er musste einst in Afghanistan eine Zwangsehe eingehen mit einer Frau, die er nicht liebte, Fatemas Mutter. Von einem Besuch bei seiner Tochter in Teheran kehrt der Vater 2017 unverrichteter Dinge zurück; sie bekommt kein Visum. Die Situation erscheint ihr als immer hoffnungsloser. Im Juli 2018 schluckt sie Tabletten von ihrer Großmutter. Im Krankenhaus pumpen Ärzte ihr den Magen aus. Sie liegt im Koma. Adnan M. fliegt sofort nach Teheran. Er ist krank vor Sorge; es steht nicht gut um die Gesundheit seiner Tochter.

Helferinnen wie Doris Thurner (links) und Bettina Knitter unterstützen die Familie. (Foto: Robert Haas)

Bettina Knitter und Doris Thurner leisten derweil Unterstützung von Deutschland aus, moralische und ganz handfeste. Sie schreiben unzählige Briefe, an Politiker, an das Auswärtige Amt, die Deutsche Botschaft in Teheran. Sie starten eine Onlinepetition und sammeln Spenden für Fatemas ärztliche Behandlung. Viele Menschen nehmen Anteil an ihrem Schicksal. Im August tritt eine neue Regelung zum Familiennachzug in Kraft. Jeden Monat dürfen nun 1000 Personen nach Deutschland zu ihren Angehörigen kommen. Und Fatema ist eine der ersten. Sie können es alle kaum fassen. Es hat geklappt, endlich. Trotzdem verspürt Doris Thurner neben großer Freude auch Bitterkeit, wenn sie heute zurückschaut: "So ein langer Kampf, so viel körperliches Leid, so viel verlorene Zeit, die in Bildung hätte investiert werden können."

An einem Vormittag im vergangenen September kommen Adnan M. und Fatema in München an. Bettina Knitter hat einen Transporter geliehen, um die beiden vom Flughafen abzuholen. Am Tisch in der Kinderkrippe zeigen sie nun Fotos: die Geschwister erwartungsvoll auf der Rückbank, der kleine Aziz mit einer roten Rose in der Hand; die Familie mit Luftballons in der Ankunftshalle; Fatema, die ihre Brüder und ihre Schwester umarmt, die sie erstmals in ihrem Leben sieht. Sie fahren zum Englischen Garten, und während die Erwachsenen alle "völlig durch den Wind" sind, wie Bettina Knitter später erzählt, ist Fatema die Einzige, die einen kühlen Kopf bewahrt und auf dem Parkplatz ihre kleinen Geschwister im Auge behält. Sie setzen sich in einen Biergarten, wo Fatema ihren ersten kleinen Kulturschock erlebt: Sie lacht sich kringelig darüber, dass die Deutschen Salat mit Soße essen.

Zwei Tage nach der Ankunft wird das Mädchen in einem Krankenhaus untersucht. Nach Ansicht der Ärzte ist Fatema ganz gut beieinander, wenn auch untergewichtig. Zudem hat sie Probleme mit der Atmung. Aber sie rappelt sich langsam auf. Sie geht schwimmen und fängt mit Taekwondo an, weil sie eines Tages Polizistin werden will. Sie guckt jetzt "Alarm für Cobra 11" und mag Spiderman, sie isst gern Hamburger, Pizza und Pasta. Sie war im Kino und es war toll, "aber ich habe nicht viel verstanden", sie hat Radfahren gelernt und Schlittschuhlaufen und ist mit Knitters Tochter shoppen gegangen.

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Sie genießt es, endlich wieder Kontakt zu Gleichaltrigen zu haben, was in Teheran wegen des ständigen Versteckspiels kaum möglich war. Sie ist glücklich, bei ihrer Familie zu sein, die drei Wochen nach Fatemas Ankunft die Nachricht vom Tod des Großvaters, Adnan M.s Vater, in Teheran verkraften musste. Er war lange an Leberkrebs erkrankt gewesen; die Familie sagt, er habe nur noch gewartet, bis seine Enkelin endlich in Sicherheit war. Die Sicherheit freilich ist relativ: Noch immer werden Fatema und ihr Vater von der Familie ihrer leiblichen Mutter bedroht.

Fatema wartet nun darauf, endlich zur Schule gehen zu können. Sie lernt mit Ehrenamtlichen Deutsch, bald beginnt ein Intensivkurs an der Volkshochschule. Die große Hoffnung ist, dass sie von September an dann die Münchner Schlau-Schule für junge Flüchtlinge besuchen kann. "Sie lernt schnell", sagt Doris Thurner. In Pullach wohnt die Familie zu sechst in einer Drei-Zimmer-Wohnung, eingerichtet mit gespendeten Möbeln. Fatema teilt sich ein Zimmer mit ihrem zehnjährigen Bruder. Im zweiten Zimmer schlafen die Eltern und die beiden kleinen Kinder. Die verzierten Gardinen im Wohnzimmer hat Fatema aus Teheran mitgebracht. Auf der Kommode steht ein Foto des Großvaters.

Gerade ist die Familie von der Krippe nach Hause gekommen. Sie sind geradelt, auch die Mutter Amina hat das Radfahren gelernt, obwohl sie erst überzeugt war, das werde sie ja wohl nie schaffen. Sie wärmt Pizzastücke in der Mikrowelle auf und stellt sie auf den Tisch im Wohnzimmer. Selbst der zweijährige Aziz hat die afghanische Gastfreundschaft schon verinnerlicht. Er zeigt auf Doris Thurner, dann auf die Pizza, dazu nickt er aufmunternd.

Aziz kreischt vor Freude

Doris Thurner hilft noch mit dem Papierkram. "Wir haben großes Glück", sagt Adnan M. immer wieder. Mit Knitter, Thurner und weiteren Unterstützern aus der Gemeinde wissen sie Menschen um sich, die auch jetzt noch an einer gelungenen Integration mitarbeiten, still, im Hintergrund und sehr effektiv. Adnan M. hofft nun, bald einen richtigen Job zu finden. Schuhmacher hat er gelernt, und am liebsten ließe er sich zum Orthopädieschuhmacher weiterbilden. Er könnte sich aber auch vorstellen, in einem Lager Pakete zu sortieren. Seine Frau Amina übernähme dann seinen Minijob in der Kinderkrippe.

Fatema flitzt mit ihrem kleinen Bruder durch die Wohnung, Aziz kreischt vor Freude. Fünf Jahre war sie von ihrer Familie getrennt. Sie hat einiges aufzuholen.

Die Namen von Fatemas Familienmitgliedern sind zu ihrem Schutz geändert.

© SZ vom 02.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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