Empathie:Wir brauchen Wagemutige, die unsere Behaglichkeit stören

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Ein Baby schreit auf dem Deck des Rettungsbootes der Proactiva Open Arms, einer NGO aus Spanien, im zentralen Mittelmeer 72 Kilometer von Libyen. (Foto: dpa)

Sterbende Kinder, Flüchtlinge in Seenot - haben wir uns daran gewöhnt? Die Gesellschaft ist angewiesen auf Menschen, die vom Leid der anderen erzählen.

Von Jagoda Marinic

Nehmen wir an, wir leben in Zeiten, in denen die Meldung, ein Kind sei in den Händen von Behörden gestorben, nur noch eine Fußnote ist. Am zweiten Weihnachtsfeiertag starb in einem Krankenhaus in Alamogordo, New Mexico, ein achtjähriges Flüchtlingskind aus Guatemala in Gewahrsam der US-Behörden. Der Name des Jungen wird nicht genannt, die Ursachen sind unklar. Bekannt ist der Name von Jakelin Caal Maquin. Ein guatemaltekisches Mädchen, das wenige Wochen zuvor, ebenfalls in US-Gewahrsam in New Mexico, starb. Angeblich sei es dehydriert. Ihr Vater bestreitet das.

Zur selben Zeit, an einer anderen Grenze, dem Mittelmeer, rettet die Sea Watch 3 mehr als dreißig Menschen das Leben. Gläubige versammeln sich unterdessen in Kirchen und lauschen der Weihnachtsgeschichte, vergewissern sich ihrer Nächstenliebe in genau den Stunden, in denen sich in Europa kein Hafen für die Notleidenden finden lässt. Glaube und Predigten sind kein Selbstzweck. Sie sollen uns ermöglichen, Menschen zu sein. Haltungen zu finden. In der christlich-abendländischen Tradition ist Humanität ein Gebot. Jede Verletzung dieser Humanität ist eine Erschütterung.

Was uns bleibt? Aus solchen Erschütterungen als Schutzgeimpfte hervorzugehen, wie Alexander Kluge das bezeichnet. Doch statt schutzgeimpft gegen das Unmenschliche zu sein, scheinen inzwischen viele geimpft zu sein gegen das Leid der anderen. Obwohl es mehrere Bundesländer gibt, die bereit wären, die Menschen bei sich aufzunehmen, muss das Rettungsschiff auf dem Mittelmeer bleiben. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Im 21. Jahrhundert "darf" ein Rettungsschiff mit dreißig Menschen an Weihnachten nicht in einen sicheren Hafen.

Leserdiskussion
:Wie gelingt mehr Wagemut?

Trotz der Not von Bedürftigen, Flüchtigen oder Opfern von Gewalt hängen viele Menschen in ihrer Behaglichkeit fest - im Glauben, dass sie die Unruhe der Welt nichts anginge. SZ-Kolumnistin Jagoda Marinić fordert Wagemutige, die erzählen, was diese Weltgemeinschaft nicht wissen möchte. Eine Leserdiskussion.

Man muss einem Jahr, das mit solchen Geschichten zur Neige geht, ein Wort voranstellen, das den Glauben an das nächste Jahr zu erneuern vermag. Wagemut ist so ein Wort. Wer dem Gleichmut etwas entgegensetzen möchte, muss wagemutig sein. Nur der Wagemutige kann die Behaglichkeit stören. Eine Behaglichkeit, die nicht einmal durch Weihnachten aus der Ruhe zu bringen war. Empörung ist inzwischen wie eine Luxuslimousine, die an der Ampel steht und aufheult; ein Motor im Leerlauf, der vorwiegend als Lästerei in den sozialen Medien hochdreht. In entscheidenden Momenten bleibt die Empörung aus.

In der Jahresbilanz des UN-Kinderhilfswerks Unicef wurde angeprangert, Kinder hätten in den vergangenen zwölf Monaten "ein extremes Ausmaß an Gewalt" erlitten. Beteiligte Konfliktparteien würden für ihre Gräueltaten nicht bestraft. Manuel Fontaine, Leiter der weltweiten Nothilfeprogramme, spricht vom Versagen der Weltgemeinschaft. Unser Versagen: für viele nur noch eine Fußnote.

Gesellschaften brauchen den emotionalen Erfahrungstransfer

Der Mensch und seine Geschichten müssen uns als Vertreter dieser Weltgemeinschaft angehen. Damit uns eine Geschichte angeht, braucht es die Wagemutigen, die es vermögen, die Mauern des Alltags zu durchbrechen. Nur mit Wagemut erreicht man jene, die meinen, dass sie die Unruhe der Welt nichts anginge. Wagemutige wie die Mütter des Plaza de Mayo in Buenos Aires. Frauen, die der Welt nicht gestatten, sich von Leid zu erholen, von dem sie selbst sich nicht erholen können. Menschen, die unbeirrt an Unrecht erinnern, das sich selbst zu rechtfertigen droht, indem es sich als Gegenwart normalisiert. Die Mütter der Plaza de Mayo waren Frauen, die in Zeiten der argentinischen Militärdiktatur nach den Verschwundenen suchten.

Zum ersten Mal versammelten sie sich am 30. April 1977. Es waren Mütter, die auf der Suche nach ihren Söhnen vor den Behörden gescheitert waren. Weil das Demonstrieren verboten war, liefen sie schweigend, mit weißem Kopftuch, im Kreis. Azucena Villaflor De Vincenti, eine der Gründerinnen, verschwand, doch das konnte dem Wagemut der anderen nichts anhaben. Viele werden bald neunzig. Ein Leben im Kampf um das Erinnern. Ihr Wagemut sucht Auswege aus einer Welt, die Verzweiflung zur Privatsache macht.

Einen anderen Ausweg fanden sechstausend Frauen aus Srebrenica, als sie die größte zivilrechtliche Klage in der Geschichte der europäischen Gerichtsbarkeit einreichten. Sie verlangten einen Schuldspruch wegen Verletzung von Menschenrechten. Diese Frauen wollten nicht hinnehmen, dass die Konventionen über Verhütung und Bestrafung von Völkermord der Vereinten Nationen nichts als Papier seien. Die wagemutigen Frauen verlangten Verantwortung von einer Weltgemeinschaft, die dem Morden zugesehen hatte. Dieses Jahr starb ihre prominenteste Stimme, Hatidža Mehmedović, die Präsidentin der Opferorganisation Mütter von Srebrenica. Ihre beiden Söhne und ihr Mann konnten inzwischen durch DNA-Analysen identifiziert werden. Sie liegen begraben nahe der Gedenkstätte.

Wer sind die Mütter der Kinder, die wir letztes Jahr vergessen haben? Wo sind die Mütter der Toten im Mittelmeer? Alexander Kluge erinnerte zuletzt daran, wie sehr Gesellschaften den emotionalen Erfahrungstransfer brauchen, mehr als die reinen Informationen. Für das nächste Jahr braucht es eine Generation Wagemutiger, die von all dem erzählt, was diese Weltgemeinschaft nicht wissen möchte.

© SZ vom 29.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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