Kultur im Landkreis:Wie die Kirchseeoner Perchten zum Kulturerbe wurden

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Vergleichsweise junge Tradition: In der Saison 2019/2020 haben die Kirchseeoner Perchten ihr 65-jähriges Bestehen gefeiert. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Es ist eine im Landkreis Ebersberg bislang einmalige Auszeichnung. Der Perchtenlauf steht jetzt in einer Reihe mit der Landshuter Hochzeit und den Oberammergauer Passionsspielen.

Von Anja Blum, Kirchseeon

Der konkrete Nutzen ist überschaubar: Die Kirchseeoner Perchten dürfen von nun an ein hochoffizielles Logo verwenden, das sie als Immaterielles Kulturerbe Bayerns ausweist. Mehr ist es nicht. Es gibt weder Geld, noch irgendeine andere Unterstützung. Und doch kann man diese Auszeichnung wohl nicht hoch genug einschätzen: Die Perchten sind nun Teil einer Liste von 66 hochkarätigen kulturellen Ausdrucksformen in Bayern, sind damit der "Landshuter Hochzeit", dem Münchner Viktualienmarkt oder den Passionsspielen von Oberammergau gleichgestellt.

Ein Museum plus das lebendige Brauchtum vor der Tür - wo hat man das schon?

Kein Wunder also, dass sich die Kirchseeoner Perchten, Heimatkundler sowie Lokalpolitiker beim Pressetermin vor Freude und Stolz über die im Landkreis Ebersberg bislang einmalige Auszeichnung nur so überschlagen. Ein Museum plus das lebendige Brauchtum vor der Tür - wo hat man das schon? Klar wird außerdem, dass das aufwendige Bewerbungsverfahren für die Perchten vor allem eines war: eine groß angelegte Selbstreflexion. Was zeichnet uns aus? Wo kommen wir her? Und wo wollen wir hin? Auch eine solche Analyse kann beizeiten ja nicht schaden.

Ist nun Immaterielles Kulturerbe: Der Perchtenlauf in Kirchseeon. Beim Pressegespräch im Maskeum wird stolz das neue Logo präsentiert. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Doch was bedeutet "Immaterielles Kulturerbe" (IKE) überhaupt? Laut eines Unesco-Übereinkommens geht es dabei um kulturelle Ausdrucksformen, die lebendig sind, von einer Gemeinschaft getragen werden, Identität stiften, spezifisches Wissen und Können umfassen und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dazu zählen mündlich überlieferte Traditionen, darstellende Künste, gesellschaftliche Bräuche, Rituale und Feste sowie traditionelle Handwerkstechniken. Alle zwei Jahre besteht die Möglichkeit, eine Bewerbung um die Aufnahme in das IKE-Verzeichnis einzureichen. Die Auswahl trifft eine unabhängige Expertenkommission. Die aktuelle Bewerbungsrunde war die fünfte, dabei wurden - aus etwa zwei Dutzend Bewerbern - zehn kulturelle Ausdrucksformen für die bayerische Liste ausgewählt.

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Das aufwendige Bewerbungsverfahren war nur im Team zu bewältigen

Dass die Perchten überhaupt unter den Kandidaten waren, ist dem Zufall zu verdanken: Dem Vereinsvorsitzenden Wolfgang Übelacker fiel vor gut einem Jahr ein Infoflyer zum IKE in die Hände. Schnell war klar, dass das für die Kirchseeoner "eine tolle Sache" wäre - das Bewerbungsverfahren aber alles andere als einfach werden würde. "Wir sind alle keine Studierten, daher wussten wir: Das können wir nur im Team stemmen", erklärt Rainer Eglseder, Leiter des Museums der Perchten.

Das IKE-Bewerbungsteam aus Florian Mayer, Ernst Weeber, Wolfgang Übelacker und Rainer Eglseder (von links). (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Also holen er und Übelacker noch zwei weitere Unterstützer an Bord, Ernst Weeber und Florian Mayer. Gemeinsam arbeitet man sich durch das Bewerbungsformular, das aus 13 Fragen mit teils zahlreichen Unterpunkten besteht, darunter einige Themen, die es durchaus in sich haben. Bei einer kritischen Reflexion der Geschichte der jeweiligen Kulturform zum Beispiel soll auch auf den Nationalsozialismus oder Bezüge zu Themen wie Kolonialismus, Krieg, Migration und ähnliches eingegangen werden. Auch Aspekte der "sozialen, ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit" werden abgefragt. Die Länge der Antworten muss sich jeweils in einem vorgegeben Rahmen bewegen. Eingefordert werden außerdem zehn Fotos - plus optional Videomaterial - sowie zwei externe Expertisen.

Am Ende, ein knappes Jahr später, ist das Bewerbungsteam bei seiner zwölften Version des Formulars angelangt: 14 Seiten, die einen so umfassenden wie tiefen Einblick geben in das Perchtenbrauchtum von Kirchseeon. Fundierte Expertisen steuern Kreisheimatpfleger Sepp Huber und Bernhard Schäfer, Chef des Historischen Vereins für den Landkreis Ebersberg, bei. "Beinahe falsch abgebogen" wäre man laut Eglseder jedoch bei der Fotoauswahl: Erst nach Rückfrage stellte sich heraus, dass kein Hochglanzmaterial gewünscht war, sondern "ganz einfache Bilder", die das Wesen und die Botschaft des Brauchtums vermitteln: der winterliche Perchtenzug mit Publikum also. Deswegen reichte man letztlich auch nicht eine professionelle BR-Reportage ein, sondern drehte ein Video von einem ganz normalen Übungsabend in Zivil.

Bis die Badstube wackelt: So sieht es aus, wenn die Trommler der Perchten beim Musikerabend in Zivil ihre Stücke üben. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Eigentlich sind die Kirchseeoner Perchtenläufe ja ein vergleichsweise junges Brauchtum - auch wenn manche Familie bereits in der vierten Generation dabei sei, wie Übelacker stolz erklärt. Doch diese Rituale sind in der Marktgemeinde eigentlich nicht heimisch, sondern wurden erst in den 50er Jahren aufgegriffen. Zugezogene Waldarbeiter hatten das alpenländische Perchtentum mit ihren Erzählungen in der Bevölkerung bekannt gemacht, "Perchtenvater" Hans Reupold holte sich zudem Inspiration bei bestehenden Vereinen in der Schweiz und Österreich - und initiierte 1954 schließlich den ersten Lauf. Eigentlich habe man sich damals im Schützenheim treffen wollen, erzählt Übelacker, doch das sei an dem Abend bereits belegt gewesen. "Also ging man mit Fackeln raus in die Dunkelheit."

Der Perchtenbrauch ist in Kirchseeon nicht heimisch, sondern erfährt hier eine lebendige Neuinterpretation

Für Ernst Weeber ist genau dies ein Grund, besonders stolz zu sein auf die Eintragung ins IKE-Verzeichnis: "Sie ist eine Anerkennung dafür, dass wir eine Neuinterpretation verschiedener Traditionen ganz frei, auf Kirchseeoner Art, lebendig halten." Sprich: Man will die historischen Bezüge pflegen, sie aber mit neuen Masken, Tänzen, Liedern und Sprüchen weiterentwickeln. Kein Wunder also, dass die Perchten unentwegt andere Kulturschaffende wie Fotografen, Maler, Bildhauer oder Musiker inspirieren.

Das IKE-Gremium hat die Perchten drei Kategorien zugeordnet: den Darstellenden Künsten, den Bräuchen, Ritualen und Festen sowie den traditionellen Handwerkstechniken. Klar, denn diese kulturelle Ausdrucksform ist höchst vielfältig. Es geht um praktische Fertigkeiten wie spezielle Tänze oder Gesänge, um handwerkliches Können in Bezug auf die Holzmasken und Gewänder, aber auch um das Wissen um Symbolik und geschichtliche Hintergründe. Deswegen sind die Perchten auch beileibe nicht nur im Winter aktiv, sondern das ganze Jahr über. Mitmachen kann eigentlich jeder: Schon seit den 70er Jahren ist der Verein kein Männerbund mehr, überhaupt gibt es kaum Einschränkungen. Selbst Menschen mit Handicap nähmen immer wieder an den Läufen teil, sagt Weeber. "Da wurden teils sogar eigene Masken geschnitzt."

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Von Anja Blum

Getragen wird das Brauchtum von drei Säulen: dem Perschtenbund Soj, der für die Aufführungen zuständig ist, einer Stiftung, die sich dem Erhalt der Masken und der Wissensvermittlung verschrieben hat, sowie dem "Maskeum" als Depot und Lernort. Für die Aktiven stehen vor allem die "Gaudi am kreativen Zusammenwirken" im Vordergrund und die Deutung der Perchten als Glücksbringer. Esoterische oder gar völkisch-germanische Vorstellungen würden dezidiert abgelehnt, so Weeber. Auch vor einem gewalttätigen Image wolle man sich in Kirchseeon hüten: "Vor den Perchten soll man Ehrfurcht haben, aber keine Angst." Faszinierend findet Weeber auch eine moderne, ökologische Interpretation des Geschehens. "Schließlich geht es hier doch um den Kreislauf des Lebens, und Frau Percht kann auch als Mutter Erde verstanden werden."

Frau Percht ist beim Lauf die zentrale Figur. (Foto: Christian Endt)

In Kirchseeon und Umgebung sind die Perchten sehr verwurzelt, ihr Brauchtum ist ein wichtiger Identitätsbringer. "Hier freuen sich die Kinder nicht auf den Nikolaus, sondern auf die Perchten", sagt Übelacker. Dementsprechend habe der Verein keinerlei Nachwuchssorgen, ganz im Gegenteil, es gebe eine Warteliste. Auch Kreisheimatpfleger Sepp Huber aus Steinhöring weiß beredt von dieser Faszination zu berichten. Bereits als kleiner Junge sei er schwer beeindruckt gewesen von der Musik und den Masken der Perchten. "Da geht einem doch einfach das Herz auf!" Zudem sei es sehr außergewöhnlich, eine solch alpenländische Tradition auf dem flachen Land anzutreffen. Sein Kollege Thomas Warg aus Ebersberg legt beim Lob sogar noch einen drauf: Die Liste des Immateriellen Kulturerbes könne froh und stolz sein, die Kirchseeoner Perchten aufnehmen zu dürfen, da diese alle Anforderungen dafür mehr als erfüllten.

In Kirchseeon warten die Kinder nicht auf den Nikolaus, sondern auf die Perchten. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Bürgermeister Jan Paeplow sagt zu, die Perchten auch in Zukunft nach Kräften zu unterstützen, auch die Ortsgestaltung solle auf das besondere Brauchtum hinweisen. "Das ist eine Verpflichtung unseres Marktes." Landrat Robert Niedergesäß gratuliert ebenfalls herzlich und bezeichnet die Aufnahme in die IKE-Liste als eine "starke Auszeichnung für starkes Engagement".

"Der Percht ist trotz Corona nicht untätig"

Für die Perchten selbst ist sie vor allem ein Ansporn, ihr mystisches Brauchtum "würdig fortzuführen", den selbst gesteckten Qualitätsanforderungen weiter gerecht zu werden. Neue Ziele hat man sich bereits gesteckt: noch mehr Kooperationen, den medialen Wert steigern, weitere Besucher ins Maskeum locken. Ja, wie sagt Paeplow so schön? "Der Percht ist trotz Corona nicht untätig." Nach der Eröffnung des Maskeums und der Aufnahme ins Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg ist die Ernennung zum Immateriellen Kulturerbe schließlich schon der dritte Paukenschlag innerhalb kürzester Zeit.

Was für Eglseder und sein Team aber auch wichtig ist: Andere Kulturinitiativen im Landkreis zu motivieren, sich ebenfalls an einer Bewerbung für das IKE-Verzeichnis zu versuchen. "Wir wissen nämlich jetzt, wie's geht!"

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