Musikfestival im Muffatwerk:Sinnesrausch in Theorie und Praxis

Lesezeit: 3 min

Neue Erfahrung: Die Münchner Band "Tydes" spielt beim "Digital Analog" zusammen mit den Videokünstlern des Dreschwerk Kollektivs. (Foto: Andreas Hantschke)

Beim Gratis-Festival "Digital Analog" stoßen Musiker, Videokünstler und Tausende Besucher in neue Klangwelten vor.

Von Michael Zirnstein

Allein vom nun auch schon 22 Jahre alten Titel her könnte man dem "Digital Analog Musikfestival" seinen Innovationsgrad in Abrede stellen. Welche Pop-Musik ist nicht irgendwie handgemacht und doch durch den Computer verfertigt? Selbst ein Gitarre-und-Gesang-Einzelkämpfer wie Ed Sheeran vervielfacht seine Wirkung durch elektronische Loop-Maschinen und natürlich in einem Hightech-Studio. Hier könnte man nun musikwissenschaftlich ausschweifen, aber das ist gar nicht nötig, denn Schirmherr, Oberbürgermeister und Rockgitarrist Dieter Reiter hat einfach recht, wenn er das "Digital Analog" als "Münchens audiovisuelles Vorzeigefestival" anpreist.

Denn wie die Macher - Stefan und Claudia Holmeier samt ihrer kompletten Familie - und die Künstler in die Grenzbereiche der Pop-Kultur vorstoßen, wie sie die Schnittstellen zwischen den Disziplinen Musik, Video, Kunst, Text und Technik in Szene setzen und wie sie das Miteinander von sonst oft isoliert werkelnden Künstlern zur Bedingung machen, lässt eben durchaus Unerhörtes entstehen. Und es lässt bei freiem Eintritt auch gewohnte Veranstaltungsräume völlig neu erleben - nach zum Beispiel Tube, Rote Sonne, Haus der Kunst und Gasteig wird nun zum zweiten Mal das Muffatwerk samt zweigeteilter Halle, Ampere, Café und dem Hof einbezogen. So dürfen sich etwa 10 000 bis 15 000 Besucher laut dem Schirmherren auf "zwei Tage voller sinnlicher Impulse freuen".

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Im Grunde sieht man auch hier viele bekannte Spieler der Münchner Indiepop-Szene, wie das Musikerinnenkollektiv Barska And The Factory, Melancholie-Experten wie Leonie singt, Stadion-Popper im Kleinformat wie New Rivals, Münchner Hamburger-Schule-Filialen wie Raketenumschau, Generation-Z-Kämpfer wie Dirty Red Bandanas, Hip-Hop-Freidenker wie Motiv um diverse Freestyle- und Beatbox-Champions, und Bands, die in ihrer Retro-Rolle den Sound von morgen suchen wie The Slow Nights (60er bis 70er), Tydes (70er bis 80er) und Covves (Shoegaze).

Der Besucher taucht digital und analog in Videokunst ein. (Foto: Robert Haas)

Und dann sind da noch jene Musiker, die sich eher als Pop-Avantgarde verstehen, die ihren Forscherdrang mit den unendlichen Möglichkeiten der Klangerzeugung durch digitale oder analoge Synthesizer ausleben. Etwa die Live-Elektro-Gruppen Back To The Bone, Klippschliefer oder bei einer hier exklusiven Fusion Loowfizzz und Effiksmusik. Oder Loisach Marci, dem sein Alphorn und die Volksmusik nie genug waren, und der sein Stil-Spektrum seitdem elektronisch verzigfacht (hier zusammen mit der Techno-jazzenden Bigband Dachau). Und Laura Glauber setzt sich für Barrierefreiheit ein - auch mit ihre Synth-Pop-Band Lauraine kennt sie keine Grenzen, wenn sie etwa die Klänge ihrer Beinprothese sampelt.

Auch bei "Barska And The Factory" geht es nicht allein um Musik. Die Videokünstlerin Nimfa wird ihren Auftritt in Szene setzen. (Foto: Anna Stangl)

Fast schon mit wissenschaftlichem Ehrgeiz gehen andere heran: Wie Mathias Kettner, der sich wegen seiner (zum Teil selbst entwickelten) Kabel-Schrankwand "Der Mann mit der Maschine" nennt. Oder ein Synthie-Pioniere wie Kurt Ader, der bereits 1977 an seinem ersten Mini-Moog fantastische Klanglandschaften erschuf. Oder Ulrich Müller, der sich vom Rockmusiker zum Installationskünstler, Komponisten für experimentelle Hörspiele wie Ballett, Elektroniker, Musikautor, Theoretiker und Universitäts-Dozenten entwickelte.

Schrauber am Werk: Mathias Kettner alias "Der Mann mit der Maschine". (Foto: TJ Krebs)

Sie alle - auch das einstige "Techno-Wunderkind" Martin Matiske, der einst als Zwölfjähriger im legendären Club Ultraschall auflegte - werden neu gefordert und befördert durch einen Kniff, der sonst eher Club-Nächte heller und spannender erstrahlen lässt: Videokünstler wie Sicovaja, Dreschwerk Kollektiv, Futurefoto oder Zava werden jeder Band gleichwertig zugeteilt und lassen die Zuhörer die Musik völlig neu sehen, mit Film-Samples, grafischer Kunst, Animationen, Licht, Live-Kameraaufnahmen, oder wie der schweizerisch-costaricanische VJ Patrick Aere auch durch KI-generierte Bilder. Jedes Konzert wird so zur einmaligen Sinnes-Erfahrung.

Ran an die Knöpfe: Das Publikum kann selbst Klangerzeugung mit dem Synthesizer ausprobieren. (Foto: Stephan Rumpf)

"Digital Analog" ist immer auch Reiz-Überflutung. Das macht bei den Konzerten nicht Halt: Es gibt zudem Diskussionen mit Kulturpolitikern, Kunstinstallationen, eine Filmvorführung von "Demoszene"-Werken, deren Ziel es seit der Heimcomputer-Ära stets war, das Beste an Sound und Grafik aus der Hardware herauszukitzeln und es somit (eher unerkannterweise) zum immateriellen Kulturerbe der Unesco gebracht hat. Und es gibt das Synthesizer-Karussell von der Kunstfigur Herr Schneider im grauen Kittel. Auf dem kann jeder Besucher selbst Kabel stecken, Knöpfe drücken und Rädchen drehen kann - um mit dem Sound auf dem Kopfhörer von seiner eigenen Innnovationskraft überrascht sein könnte.

Digital Analog Musikfestival, 6. und 7. Okt., Fr. 20.30-1 Uhr, Sa. 20.30-4 Uhr, München, Muffatwerk, www.digitalanalog.org

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