Münchner Kammerspiele:Im Licht der Geschichte

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Schwierige Familienkonstellation: Die Kammerspiele zeigen die Uraufführung von Nuran David Calis' "Das Erbe". (Foto: Krafft Angerer)

30 Jahre nach dem Brandanschlag in Mölln erinnern die Münchner Kammerspiele mit einer Uraufführung an die Opfer und die rechtsradikale Tat. Das Stück "Das Erbe" von Autor Nuran David Calis zielt zugleich auf die Gegenwart.

Von Yvonne Poppek

Vor 30 Jahren sterben Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yilmaz bei einem rassistischen Brandanschlag in Mölln. Bahide Arslan ist 51 Jahre alt, die Mädchen zehn und 14. Der damals siebenjährige Ibrahim Arslan überlebt, weil seine Großmutter Bahide ihn zuvor in nasse Tücher gewickelt hat. Bei dem Versuch, die beiden anderen Kinder im Haus zu retten, stirbt sie. Die beiden Täter, die den Brand bei der Feuerwehr mit den Worten "In der Mühlenstraße brennt es! Heil Hitler!" meldeten, werden zu Haftstrafen verurteilt, seit 2000 beziehungsweise 2007 leben sie wieder auf freiem Fuß.

Blickt man auf die Jahre nach Mölln bis heute, reißt die Kette der rassistisch motivierten Morde nicht ab. Dazu gehören die Taten des NSU, 2016 der Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, 2020 der Anschlag in Hanau. Die Zahl der Ermordeten allein dieser drei Gewaltverbrechen: 28. Mölln, sagt der in München lebende, vielfach ausgezeichnete Autor und Regisseur Nuran David Calis, "war auch für mich ein einschneidender Moment". Damals war Calis, Sohn armenisch-jüdischer Einwanderer aus der Türkei, 16 Jahre alt und lebte in Bielefeld. Nach den Anschlägen griff die Angst um sich, die Eltern ließen nachts das Licht an. Im Frühjahr dieses Jahres brachte Calis - nach Arbeiten beispielsweise zum NSU - in Köln einen Dokumentartheaterabend zu den Anschlägen von Mölln heraus. Eine weitere Auseinandersetzung ist das Stück "Das Erbe" mit nur wenigen dokumentarischen Elementen. Dieses wird nun am 23. November, genau 30 Jahre nach Mölln, in den Kammerspielen uraufgeführt.

Die Bedrohungslage wird schlimmer

"Um die Gegenwart zu verstehen, muss ich einen Moment suchen, der weiter weg ist", sagt der Autor. Mit seinem Stück "Das Erbe" sei aber ganz stark die Gegenwart gemeint. "Mölln ist das Erbe einer ganzen Bundesrepublik." Dabei empfinde er den "Umgang mit Ausländern, Asylsuchenden, Minderheiten" in Deutschland immer besorgniserregender, es existiere eine rhetorische Schamlosigkeit, Menschen aufeinander zu hetzen, die Bedrohungslage werde schlimmer. Dem gilt es, etwas entgegenzusetzen. "Ich will für dieses Land auch ästhetisch kämpfen", sagt Calis. Ein Mittel ist eben, in die Vergangenheit zu gehen, "um etwas über die Gegenwart zu erzählen". Diese Wirkkraft entfaltet sein neues Stück.

Autor und Regisseur Nuran David Calis. (Foto: Costa Belibasakis)

"Das Erbe" spielt vom 23. bis 26. November 1992 überwiegend im Haus der fiktiven, türkisch-stämmigen Familie Dogan, wenige, kurze Szenen vom Brandanschlag kommen hinzu. Die Dogans sind schwer reich, sie leben in einer 20-Millionen-Euro-Villa, führen ein großes Logistikunternehmen. Die Figurenkonstellation gleicht in Teilen bewusst jener aus Mölln: eine Frau, drei Kinder. Bei Calis sind die Kinder Geschwister, zwei Töchter, ein Sohn. Sie trauern mit ihrer Mutter um den gerade verstorbenen Vater. Hinzu kommt noch die Freundin des Sohnes und Hausangestellte. Die Kinder sind bei Calis bereits erwachsen, anders als in Mölln. Es ist eine Art Weiterspinnen der Biografien, die man den Opfern "mit einem Schnipser" genommen hat. Die Frage wird unbeantwortet bleiben: "Was hätte aus ihnen werden können?"

Die Figuren hat Calis extrem unterschiedlich angelegt: Der Sohn ist der Taugenichts der Familie, die eine Schwester lebt in der Türkei, ist verheiratet mit einem Imam, die andere ist lesbisch, lebt als Galeristin in London. Für die Mutter ist - wie einst für den Vater - das Unternehmen in Deutschland zentral. Der Vater hat nun die Erbschaft an die Bedingung geknüpft, dass die Familie die Firma von Deutschland aus weiterführt und sich zuvor in einer neu eingerichteten Stiftung beweist. Parallel zu dieser Eröffnung kommt es zum Brandanschlag in Mölln. Vor diesem Hintergrund entspinnt sich ein vielschichtiger Streit, ob und wie jeder einzelne in Deutschland weiter leben will.

Das Personal sollte nicht aus "Problemtürken" bestehen

Unabhängig von der historischen Aufarbeitung und der Auseinandersetzung mit Rechtsradikalismus ist Calis folgender Punkt wichtig: "Ich habe mich damit beschäftigt, ob es gelingt, Narrative zu verändern." Blickt man auf die Rollen im Film oder auf der Bühne, ist das Bild derer eindimensional, deren Familien Wurzeln in der Türkei haben. "Wir sind die Gastarbeiter. Wir sind die Probleme der Gesellschaft." Er wollte ein anderes Milieu auf der Bühne, "ein Personal, das nicht aus Problemtürken besteht." Die erfolgreichen Biografien gebe es ja, warum würden diese denn nicht erzählt? Inspiration für seine fiktive Firma "Dogan Logistic" sei etwa Öga Tours. Calis möchte, das über die Kunst auch solche Erfolgsgeschichten ins Bewusstsein kommen, um eben nicht immer dieselben Bilder und Narrative zu bedienen. Die Gesellschaft, da ist sich Calis sicher, sei hier weiter als die klischeehaften und überholten Rollenzuschreibungen in Dramen und Drehbüchern.

Die Idee für "Das Erbe" habe er schon 2019 gehabt, nach dem Anschlag von Hanau begann er sie umzusetzen. "Das hatte für mich eine ganz starke Dringlichkeit", sagt er. Selbst inszenieren wollte er den Text aber nicht, da sei er zu nah dran. Er habe ihn deshalb an Regisseurin Pinar Karabulut geschickt und sie gefragt, ob sie Interesse habe. Karabulut und er kennen sich seit 2014 vom Schauspiel Köln, mittlerweile ist sie Hausregisseurin an den Kammerspielen. "Sie ist sehr stark. Es ist sehr befreiend, wie sie arbeitet", sagt Calis. Diese Wunschbesetzung für die Regie hat in jedem Fall geklappt, Karabulut inszeniert im Schauspielhaus der Kammerspiele, also auf der großen Bühne. "Wir packen das auf die große Karte", sagt Calis. Damit sich etwas ändert, damit Menschen wie Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yilmaz nicht vergessen werden.

Das Erbe , Premiere: Mittwoch, 23. November, Münchner Kammerspiele, Schauspielhaus; am 22. November, 22 bis 4 Uhr, Mahnwache im Gedenken an die damals Verstorbenen Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz, Habibi Kiosk

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