Gedenken an Novemberpogrome:Kampf um Anerkennung: "Lassen Sie uns wütend sein"

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Rund 180 Menschen beteiligten sich im vergangenen Jahr an der Gedenkveranstaltung der bayerischen Gewerkschaftsjugend in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Auch heuer veranstaltet die DGB wieder eine Gedenkfeier. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Bei der Gedenkfeier der DGB-Jugend in Dachau anlässlich der Novemberpogrome kritisiert Tahera Ameer von der Amadeu Antonio Stiftung die "Ignoranz der Tätergesellschaft" und wirft Finanzminister Christian Lindner eine "unerträgliche Haltung" vor.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Um kurz nach 13 Uhr an diesem sonnigen Sonntagnachmittag setzen sich die rund 180 Anwesenden in der KZ-Gedenkstätte Dachau in Bewegung. Der Kies unter ihren Füßen knirscht. Gemeinsam und Seit an Seit schreiten sie über den ehemaligen Appellplatz die Lagerstraße entlang, wo einst die Häftlingsbaracken standen. Sie tragen Kränze und Rosen, die sie am Denkmal des unbekannten Häftlings am Krematorium ablegen, um an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, so wie in den vielen Jahren davor.

Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, als die Nazis begannen, Juden in Deutschland und Europa systematisch zu vernichten und 11 000 jüdische Männer ins KZ Dachau sperrten, jährt sich heuer zum 84. Mal. Seit 1952, also seit sieben Jahrzehnten veranstaltet die Jugend des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Gedenkveranstaltungen im ehemaligen Konzentrationslager Dachau anlässlich dieser "Nacht der Schande". Bernhard Stiedl, Vorsitzender des DGB Bayern, sagt bei seiner Begrüßung vor dem Internationalen Mahnmal, die Gedenkveranstaltungen der bayerischen DGB-Jugend seien das "längste Erinnerungsprojekt einer Nicht-Verfolgtenorganisation in Deutschland". Angesichts des Wiedererstarkens rechtsradikaler Parteien in Deutschland und ganz Europa sei diese Erinnerungsarbeit heute wichtiger denn je. "Wir dürfen nicht nachlassen, Neonazis, Rassisten und Antisemiten aller Schattierungen entschlossen entgegen zu treten."

"Erinnern heißt kämpfen"

Für die Gewerkschaftsjugend ist die Erinnerungsarbeit untrennbar mit der moralischen und politischen Verpflichtung für aktives demokratisches Eingreifen in die heutigen Verhältnisse verbunden. Dementsprechend lautet das Motto der Gedenkfeiern in Dachau seit jeher: "Erinnern heißt kämpfen".

Auf diesen Aufruf bezieht sich auch Tahera Ameer, die in diesem Jahr die Gedenkrede in Dachau hält. Ameer ist Vorstandsmitglied der Amadeu Antonio Stiftung, die sich seit ihrer Gründung 1998 für eine demokratische Zivilgesellschaft einsetzt und konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet. An diesem Nachmittag steht Ameer vor dem sogenannten Verbrennungsraum des ehemaligen KZ Dachau, wo die Nazis in jedem der vier Öfen drei Menschen gleichzeitig einäscherten, und spricht zu den Anwesenden, die sich in einem Halbkreis vor ihr versammelt haben, darunter etwa die Landtagsabgeordneten Katharina Schulze (Grüne) und Florian Ritter (SPD) oder Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann.

"Erinnern ist nicht Blumen ablegen und sich dann bedeutungsvoll vorkommen"

Es ist eine bemerkenswerte Rede. Ameer ist wütend. Sie kritisiert die Erinnerungskultur in Deutschland, speziell das ritualisierte Gedenken an Jahrestagen sowie die Selbstzufriedenheit der postnationalsozialistischen Gesellschaft mit ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Das Motto "Erinnern heißt kämpfen" bedeute ihr viel, sagt Ameer. Erinnern sei eine Anstrengung. "Erinnern ist nicht Blumen ablegen und sich dann bedeutungsvoll vorkommen, um danach ein gutes Glas Wein zu trinken. Erinnern an die Shoah war von jeher ein Kampf um Anerkennung, ein weiterer Kampf ums Überleben für die Überlebenden. Das ist brutal und war es immer. Und das ist es noch."

Tahera Ameer, Vorstandsmitglied der Amadeu Antonio Stiftung, bei ihrer Gedenkrede in der KZ-Gedenkstätte Dachau. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Wie brutal der Kampf um Anerkennung sein kann, dafür nennt Ameer als Beispiel auch die Politik von Finanzminister Christian Lindner (FDP). Wie die Zeit kürzlich berichtete, soll Lindner versucht haben, bei Zahlungen an Holocaust-Überlebende zu sparen. 1952 hatte sich die Bundesrepublik erstmals dazu verpflichtet, sogenannte Wiedergutmachungsleistungen für den Holocaust zu zahlen, die seitdem jährlich entrichtet wurden. Doch um die Schuldenbremse 2023 einhalten zu können, soll Lindner laut den Recherchen in diesem Jahr versucht haben, die Kosten der Deutschen an der Schuld möglichst gering zu halten und habe mit der Jewish Claims Conference Gespräche geführt, als seien dies Tarifverhandlungen. "Die Schuldbremse", titelte die Zeit. Erst nach einer Intervention des US-amerikanischen Außenministers Anthony Blinken, der Deutschland mahnte, "seinen Verpflichtungen nachzukommen", entspannte sich der Konflikt.

Das Bundesfinanzministerium hat dieser Darstellung inzwischen widersprochen. Ein Sprecher sagte, die Verhandlungen würden auf deutscher Seite traditionell auf Staatssekretärsebene geführt. "Diese Gespräche endeten nicht ergebnislos. Die Leistungen für die hochbetagten NS-Opfer wurden im Gegenteil abgesichert oder verbessert", so der Sprecher. Das Bundesfinanzministerium und die Jewish Claims Conference hätten sich insgesamt auf ein "auch im historischen Vergleich außerordentliches Leistungspaket" in Höhe von rund 1,3 Milliarden Euro für das Jahr 2023 geeinigt. Der Sprecher sagte aber auch, dass "aus rechtlichen und haushalterischen Gründen" nicht alle Forderungen der Jewish Claims Conference berücksichtigt werden konnten.

Ameer spricht in Dachau von einer "unerträglichen, und so selbstbewussten und selbstgewissen Haltung des Finanzministers". Nicht nur dieses Beispiel mache deutlich, "dass immer noch darum gekämpft wird, dass es eine Einsicht in die Verbrechen gibt hier in Deutschland". Auch an anderen Stellen und in vielen Diskussionen zu Erinnerungskultur und Gedenken erscheine es so, "als wäre die Shoah eine jüdische Geschichte". Doch es sei eine deutsche Geschichte. "Erinnern heißt kämpfen - auch kämpfen gegen die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Tätergesellschaft", sagt Ameer. Sie schließt ihre Rede mit den Worten: "Lassen Sie uns wütend sein darüber und lassen Sie uns dies als einen Handlungsauftrag verstehen."

Nach Ameer tritt Eva Wohlfahrt, Vorsitzende der DGB-Jugend Bayern, ans Rednerpult. Sie bedankt sich für diese "starke und kämpferische Rede" und ruft die Anwesenden anschließend zu einer Schweigeminute auf. Stille legte sich über den Krematoriumsbereich des ehemaligen KZ Dachau. Es ist alles gesagt.

*Die frühere Version dieses Artikels wurde um die Stellungnahme des Bundesfinanzministeriums ergänzt.

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