Vor langer Zeit, nämlich 1966/67, gab es einmal eine nicht übertrieben verfeinerte TV-Serie namens The Time Tunnel. Mit Hilfe eines vorsichtshalber nicht näher beschriebenen Zeittunnels reisten mutige Forscher aus den USA der Gegenwart durch Raum und Epochen. Sie landeten 1912 auf der "Titanic", die gerade volle Kraft Richtung Eisberg dampfte, ritten mit dem siegesgewissen General Custer 1876 zum Little Big Horn und sahen eine erschreckende Zukunft in einer amerikanischen Kleinstadt vor sich: The Town of Terror.
Zu ihrem Leidwesen gelang es den Reisenden "durch die unendlichen Korridore der Zeit" niemals, den Lauf der Geschichte und der Geschehnisse zu ändern, die ja oft übel genug ausgingen. Auf der Titanic lachte man sie aus: Eisberge? Auf dieser Route? Nur Spinner können sich so etwas ausdenken. General Custer wollte nichts von kleinlicher Bedenkenträgerei wissen und ritt in sein Verderben.
Ein wenig fühlt man sich bei Babylon Berlin, der Serie, die gerade sehr erfolgreich in der ARD läuft, an das Dilemma der Zeitreisenden erinnert: Was geschieht, vollzieht sich unausweichlich und ganz unabhängig davon, was die Figuren des Films tun oder wünschen.
Die Serie führt den Zuschauer mit der Kamera mitten hinein in eine brillant inszenierte Vergangenheit, das Berlin ab 1929. Düstere Hinterhöfe, der ebenso legendäre wie verruchte Club "Moka Efti" (mit einer hinreißenden Tanz-Inszenierung des Lieds "Zu Asche, zu Staub"), das Treiben rechter Untergrundzirkel, das brutale Vorgehen der preußischen Polizei gegen kommunistische Demonstranten, verrauchte Kaschemmen - das hat trotz mancher Überspitzungen das Format großer US-Serien. Wie nahe die junge Republik da bereits am Abgrund taumelt, das wissen wir, die Zuschauer, ohne etwas daran ändern zu können. Schon 1933 reißen die Nazis die Macht an sich, es folgen Diktatur, Terror, Vernichtungskrieg und Holocaust. Für die Menschen von 1929 war das noch ganz unvorstellbar.
Die Geschichte der Weimarer Republik ist nicht die Vorgeschichte ihres zwangsläufigen Untergangs
Der Kriminalpolizist Gereon Rath, die Hilfskommissarin Charlotte Ritter und all die anderen Figuren können vom kommenden Unheil nichts wissen - und es ist eine der großen Stärken von Babylon Berlin, dass es die Stimmung dieser Jahre so präzise und fesselnd einfängt. Die Verteidiger der Republik wie Rath und der jüdische Staatsanwalt August Benda sind keine Optimisten, aber sie führen einen Kampf, den sie noch lange nicht verloren geben wollen.
Wie in den Romanvorlagen, den großartigen und kenntnisreich recherchierten Kriminalromanen von Volker Kutscher, beginnt die Handlung in einer Weimarer Republik, deren Zukunft noch offen erscheint und die ja in der Tat ganz andere Wege hätte einschlagen können. Moderne Historiker wie Robert Gerwarth betrachten "Weimar" nicht mehr als von vornherein totgeborenes Kind. In seinem neuen Buch ",Die größte aller Revolutionen': November 1918" schreibt der in Dublin lehrende Geschichtswissenschaftler: "Dass die Weimarer Republik bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 etlichen Versuchen der radikalen Linken und Rechten, gewaltsam die Macht an sich zu reißen, erfolgreich getrotzt hat, wurde bewusst ignoriert - größtenteils, weil es dem fest verwurzelten Narrativ der labilen Republik und des sozialdemokratischen Verrats an der ,wahren' Revolution nun einmal im Wege stand."
Das ist eine spannende These, die viel Wahres enthält. Es genügt eben nicht, die Geschichte der Weimarer Republik als Vorgeschichte ihres angeblich zwangsläufigen Untergangs zu betrachten. Es hätte anders kommen können (eine Möglichkeit, mit der Babylon Berlin geschickt spielt, obwohl jeder Zuschauer weiß, wie die Sache enden wird), doch es kam eben nicht anders. Die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den "Schwarzen Freitag" an der New Yorker Wall Street, traf die noch unter den Folgen des Ersten Weltkriegs, dieser "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (US-Historiker George F. Kennan), leidenden Industriestaaten mit der Wucht eines Tsunami; Millionen verloren ihre Arbeit, ihr Hab und Gut und alle Hoffnung. Selbst in den USA fürchteten viele Zeitgenossen um die demokratische Ordnung; und es war erst der eigentlich gänzlich unamerikanische "New Deal", das gewaltige öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramm des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, der diese Ordnung vor autoritären Versuchungen bewahrte. "Wir müssen", rief Roosevelt im Radio, "nichts fürchten außer der Furcht selbst."
In Deutschland triumphierte die Furcht, und was immer Gerwarth und andere, Positives über die Weimarer Republik sagen mögen: Der Krise, der Massenarbeitslosigkeit, der inneren Radikalisierung vermochte sie eben nicht mehr zu trotzen. Die freiheitlichen Kräfte waren zu schwach gegen die Herausforderung von rechts, die Antidemokraten in Industrie, Reichswehr, Justiz und anderen Schaltstellen der Macht zu entschlossen und zu gut vernetzt.
Nicht wenige Kritiker betonen, wie aktuell diese Serie und ihre Handlung seien: der Aufstieg des Rechtspopulismus, verunsicherte Demokraten, in Grabenkämpfen gefangene Parteien. Alles Parallelen zur Gegenwart? So schlicht wiederholt sich Geschichte glücklicherweise nicht.
Wer sich mit der Weimarer Republik befasst - und sei es, wie Millionen Zuschauer, abends vor dem Fernseher bei Babylon Berlin - wird aus der Geschichte ihres Scheiterns immer lernen können, dass eine Demokratie wehrhaft sein muss. Aber die Bundesrepublik als zweite deutsche Demokratie ist ein starkes Gemeinwesen, die rechte Partei trotz ihrer Wahlerfolge ein Außenseiter, der Staat ist nicht von Staatsfeinden durchsetzt wie damals. Das heißt nicht, dass Wachsamkeit nicht geboten wäre, sie ist es zweifellos.
"Berlin aber ist nicht Weimar", schreibt die Münchner Historikerin Elke Seefried mit Recht: "Die bundesdeutsche Demokratie basiert auf anderen ökonomischen Grundlagen und gefestigten Erfahrungen. Ihre Stärke war lange ihre Vitalität und das Aushalten unterschiedlicher Positionen bei entschiedener Abgrenzung gegenüber dem Extremismus." Das muss nicht so bleiben. Aber die Voraussetzungen dafür, dass diese Stärke erhalten bleibt, sind noch immer sehr gut.
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