Historie:Die Tragödie des Otto John

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Der Spion, der in die Kälte ging: Otto John, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsschutzes (Mitte), 1954 mit Begleitern im Café Warschau in der Ostberliner Stalinallee. (Foto: AP)

Die ARD-Serie "Bonn" erzählt vom ersten Präsidenten des Verfassungsschutzes und seinem vergeblichen Kampf gegen die Nazi-Seilschaften. Und die Wirklichkeit überholt die Fiktion sogar noch - eine deutsche Geschichte ohne Happy End.

Von Ronen Steinke

Der Andrang im "Haus der deutschen Presse" war überwältigend. Es gab eine Sensation zu bestaunen. Vor den Ostberliner Journalisten trat an diesem Sommertag kein Geringerer auf als der Chef des westdeutschen Verfassungsschutzes, ein Mann namens Otto John. Als er zu reden begann, wurde es vollkommen still an diesem 11. August 1954. Er klagte an: Die Minister um Kanzler Konrad Adenauer seien "Kriegstreiber". Otto John beschrieb eine "Renazifizierung in Westdeutschland" sowie einen "neuen Kreuzzug gegen den Osten". Zu solchen Zuständen könne er nicht länger schweigen, sagte er. Daher sei er der Stimme seines Gewissens gefolgt - und in die DDR übergelaufen.

Die Nachricht war ein Schock, sie erschütterte die junge Bundesrepublik im Kalten Krieg. Vor den Ostberliner Journalisten sagte Otto John, damals 45 Jahre alt, noch: "Das Amt Blank" - so hieß der damalige Vorläufer des Verteidigungsministeriums - "und die Organisation Gehlen" - so hieß der Vorläufer des BND - "beschäftigen in ihren großen Mitarbeiterstäben SD- und SS-Führer, die über deutsche Widerstandskämpfer zu Gericht gesessen oder diese einfach umgebracht haben."

Es war eine beißende, verdammende Kritik, außerdem hochnotpeinlich. Aber man muss auch sagen: Ja, er hatte recht. Leider war es so. Otto John sprach eine Wahrheit aus, die in seinem eigenen Staat kaum jemand hören mochte.

Die Rückkehr der alten Nazis

Die Entnazifizierung war längst wieder eingeschlafen, und die Hoffnung von manchen demokratisch Gesinnten, dass Nazis von staatlicher Macht ferngehalten werden würden, einer bitteren Erkenntnis gewichen. Durch Amnestie-Gesetze von 1949 und 1954 konnten NS-belastete Beamte massenhaft in den bundesrepublikanischen Dienst zurückkehren. Und genau das taten sie auch.

Nun ist dieser Otto John wieder im Fernsehen (ARD-Mediathek) zu sehen. Gespielt von dem sympathisch aufgekratzten Sebastian Blomberg, sieht man den ersten Verfassungsschutz-Chef der Republik gerade im Sechsteiler "Bonn - Alte Freunde, neue Feinde", wie er raucht, viel Whisky trinkt und sich bemüht, an den Altnazis rund um ihn herum nicht zu verzweifeln. Vor allem am zwielichtigen Chef des Auslandsgeheimdiensts, Reinhard Gehlen. Feuchtfröhlichen Abenden war auch der reale Otto John zugeneigt, wenn man zeitgenössischen Medienberichten glauben darf.

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Was man in der ARD-Serie aber nicht sieht und was die Fernsehproduktion neben allerlei Hinzudichtungen merkwürdigerweise auch auslässt, ist der dramatischste Wendepunkt in Otto Johns Leben - eben das, was am 11. August 1954 vor den Journalisten im "Haus der deutschen Presse" begann und was dann jahrzehntelang nicht nur den Altnazi Gehlen über Otto John urteilen ließ: "Einmal Verräter, immer Verräter."

Natürlich war es ein Propaganda-Coup für die DDR, wie sie den prominenten Überläufer John als ihren Kronzeugen präsentieren konnten. Das muss ihm klar gewesen sein: Wie sie ihn in der DDR groß auf Podien setzten, bald großzügig ausgestattet mit einem Büro inklusive Sekretärin, außerdem einem Dienstwagen und einem Haus am Zeuthener See - "mit direktem Zugang zum Wasser", wie die Stasi angeordnet hatte. Der ganze Vorfall war für das Regime in Ostberlin ein Glück.

Ein Mann ohne Illusionen

Zur Wahrheit gehört indes, dass die Stasi-Propaganda es gar nicht nötig hatte, die braunen Kontinuitäten in Westdeutschland übertrieben aufzubauschen (sie tat es dennoch). Man musste nicht lügen, um die Bundesrepublik in diesem Punkt schlecht aussehen zu lassen. Es genügte schon, die Fakten zu benennen. Dies tat Otto John.

Er war kein Naivling, kein SED-Verniedlicher, der die DDR für demokratisch gehalten hätte. Im Gegenteil, noch kurz vor seinem Seitenwechsel hatte er als Verfassungsschutz-Chef in einer Denkschrift die "ungeheuren und ungeheuerlichen kommunistischen Bestrebungen nach der Bolschewisierung Deutschlands und der Welt" angeprangert. Otto John hatte sich keine Illusionen über den von Stalin diktierten Kommunismus Moskauer Prägung gemacht und auch keine Hemmungen gehabt, als Verfassungsschutz-Chef die westdeutsche KPD überwachen zu lassen. Es sagt dann einiges über die Zustände im westdeutschen Sicherheitsapparat aus, dass ihm in diesem Sommer 1954 der spektakuläre Gang nach Ostberlin tatsächlich als seine letzte Möglichkeit erschien.

Vom Chef der Wehrmachtsabteilung "Fremde Heere Ost" bis zum Leiter des Bundesnachrichtendienstes: Reinhard Gehlen (hier in einer Aufnahme vor 1944) war berüchtigt als graue Eminenz der jungen Bundesrepublik. (Foto: Associated Press)

Otto John, geboren 1909, war als junger Rechtsanwalt im Widerstand gegen die Nazis gewesen. Im Auftrag des späteren Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg hatte er Kontakt zu den Briten gehalten, doch nach dem missglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 war es ihm gelungen, sich abzusetzen. Während sein Bruder Hans von den Nazis in Berlin hingerichtet wurde, war Otto John die Flucht nach England gelungen. Nach dem Krieg hatte er sich als Gutachter und Zeuge an den Kriegsverbrecherprozessen beteiligt. Erst 1950 war er dann aus dem Londoner Exil endgültig nach Deutschland zurückgekehrt. Mit einem Auftrag.

"Die Ersten, die gehängt würden, sind wir!"

Die Alliierten Hohen Kommissare, die Vertreter der drei Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich, wollten in der Bundesrepublik eine starke Abwehr gegen Kommunisten wie Faschisten gleichermaßen installieren. Ihre Sorge war: Schon der kleinste Versuch eines Staatsstreichs, egal ob von rechts oder links, könnte der Sowjetunion als Vorwand für einen militärischen Einmarsch in die Bonner Republik dienen. Die Hohen Kommissare fanden, man müsse so wachsam sein wie nur möglich.

Otto John war gerne ihr Mann dafür. In seinem ersten "Betriebsappell" als Verfassungsschutz-Chef an seine damals nur knapp hundert Mitarbeiter sagte er: Jeder Einzelne trage die Verantwortung dafür, "dass unser Volk vor einer nochmaligen Vergewaltigung durch ein Gewalt- und Terrorregime bewahrt bleibt. Jeder von Ihnen kann sich selbst ausmalen, was unser Schicksal sein würde, wenn die Kräfte zur Macht kommen würden, deren Pläne und Umtriebe wir erforschen müssen, damit sie wirksam bekämpft werden können. Die Ersten, die gehängt werden oder ins KZ wandern würden, wären wir!"

Das Problem war nur: In seiner eigenen Behörde, dem Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz, blickte er dabei in die Gesichter von Männern, die das alte Regime in freundlicher Erinnerung hielten. Diese Beamten hatte man ihm vorgesetzt, und aus der Not heraus hatte er die am stärksten NS-Belasteten unter ihnen dann zumindest in die Abteilung für Spionageabwehr gesteckt, wo sie vielleicht weniger Schaden anrichten konnten. Die früheren Gestapo-Ermittler jagten jetzt Sowjetspione - oder jene, die sie dafür hielten.

Die Ränke des alten Nazis

Eine Untersuchungskommission im Auftrag der Bundesregierung fand 1955 heraus, dass unter den inzwischen schon 200 Mitarbeitern des Bundesamts für Verfassungsschutz gleich zwanzig Prozent ehemalige Mitglieder der NSDAP waren. Die Alliierten, die die Personalauswahl eng überwachten, tolerierten dies, solange die Leute nicht unmittelbar in einer der verbrecherischen NS-Sicherheitsorgane tätig gewesen waren, wie der Gestapo oder dem "Sicherheitsdienst" SD der SS. Der Kalte Krieg hatte die Prioritäten verschoben.

Die Statistik war aber sogar noch weit untertrieben. Denn die "freien Mitarbeiter" tauchten in der Statistik überhaupt nicht auf. Verfassungsschutz-Vize Albert Radke, ein Mann vom einstigen NS-Militärgeheimdienst, koordinierte ein Netz aus alten Kameraden, die etwa beim SD die Arbeit mit Spitzeln, sogenannten V-Leuten, erlernt hatten. Er versteckte sie jetzt aber unauffällig in Tarnfirmen und unterlief so die offiziellen Personalregeln.

Vergeblicher Kampf gegen die Altnazis im westdeutschen Sicherheitsapparat: Otto John. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die Untersuchungskommission der Bundesregierung hielt sich mit Kritik an dieser Verschleierung sehr zurück. Denn der Leiter dieser Kommission, der Jurist Wilhelm Ludwig, war einst selbst bei der Gestapo gewesen und hatte dort von April 1933 an die Leitung des Referats IX innegehabt: "Ausschreitungen, Attentate, Ausländer, Emigranten, Juden, Freimaurer". Ausgerechnet er war nun auserwählt, Transparenz darüber zu schaffen, ob sich in den Reihen des Bundesamts für Verfassungsschutz problematische Charaktere fänden.

Ein Mann, der mächtig zu sein schien, auf verlorenem Posten

Rechte Gewalttäter reckten längst wieder ihr Haupt in der jungen Bundesrepublik. Revanchistische Gruppen wie der "Technische Dienst" des neonazistischen "Bundes Deutscher Jugend" übten mit Waffen. Die Gruppe legte in Hessen Todeslisten für einen "Tag X" an, mit den Namen von Sozialdemokraten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte offiziell keine Ahnung davon. Schlimmer noch: Johns Vize Radke hatte inoffiziell sogar von den Vorgängen gehört. Er hatte aber nichts veranlasst, keinen Finger gerührt, wie Otto John erst später herausfand, im September 1952.

Es war grotesk. Otto John stand als Verfassungsschutz-Chef, wie er erkennen musste, auf verlorenem Posten. Er war isoliert, umgeben von alten braunen Kameraden, marginalisiert in seiner eigenen Behörde.

Am 20. Juli 1954, auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Hitler-Attentat, nahm John dann an einer Gedenkfeier im Berliner Bendlerblock teil. Dort erkannte er unter den Anwesenden zwei ehemalige Mitarbeiter der Gestapo. Der Anblick fesselte ihn. Vermutlich gehörten die Männer zur Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamts, der Bodyguard-Truppe also, die den anwesenden Kanzler und die Bundesminister beschützten. "Die Gestapolümmel", so erzählte John nach der Veranstaltung einem Vertrauten, hätten "mit hämischer Gebärde die Feier verfolgt".

"Sie verlassen jetzt West-Berlin."

Augenzeugen erzählten später, John habe angefasst gewirkt. Man kann heute nur mutmaßen, wie sich in diesem Moment, während andachtsvolle Reden gehalten und Blumengebinde abgelegt wurden, Johns Trauer um den ermordeten Bruder Hans mit der Sorge um die ungewisse Zukunft vermischten. Noch am selben Abend jedenfalls stieg John gemeinsam mit einem befreundeten Arzt in einen Ford. Gegen 21.30 Uhr rollten sie auf die Grenze zum sowjetischen Sektor zu und passierten langsam das Schild mit dem Hinweis "Sie verlassen jetzt West-Berlin".

Die Geschichte von Otto Johns Übertritt in die DDR wird heute noch oft als zwielichtige erzählt. Als ein Geheimdienst-GAU, ein Verrat an der Bundesrepublik. Etwas Übles, als "die Affäre Otto John". Teils hatte sich John dies selbst zuzuschreiben, denn nach seinen so klaren, aufklärerischen Worten über die Zustände in Adenauers Bonner Republik beschlich ihn anderthalb Jahre später die Sorge, sich zu sehr dem ostdeutschen Regime ausgeliefert zu haben. John wollte sich nun plötzlich doch wieder lossagen.

"Betäubt und verschleppt" - wirklich?

So flüchtete er 1956 zurück in den Westen und behauptete auf einmal zu seiner Verteidigung, er sei gar nicht freiwillig in den Osten gegangen - sondern bloß von der Staatssicherheit "betäubt und verschleppt" worden. Das ist heute, nach der Öffnung der Stasi-Archive, als Unfug widerlegt. John war freiwillig gegangen. So verstrickte er sich nun in krumme Erzählungen.

Aber wenn selbst so kritische Historiker wie Constantin Goschler und Michael Wala, die die Geschichte des Verfassungsschutzes untersucht haben, mit Blick auf Johns großen Auftritt in Ostberlin 1954 vom "größten Skandal in der Geschichte der deutschen Sicherheitsbehörden" schreiben - dann erinnert das doch auch ein wenig an den Ausspruch des Schriftstellers Kurt Tucholsky: "In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, als viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht."

Fest steht heute: Als Otto John nach Ostberlin überlief, war ihm bereits klar, dass die Bundesregierung immer mehr alten braunen Kameraden den Weg zurück in den Inlandsgeheimdienst ebnen wollte. John hatte auf seiner Pressekonferenz in der DDR noch ausgeführt: "In der Bundesrepublik ist mir die Grundlage für eine politische Aktivität entzogen worden. Nachdem ich in meinem Amt fortgesetzt von den sich überall im politischen und auch im öffentlichen Leben wieder regenden Nazis angeprangert worden bin, hat nunmehr der Herr Bundesinnenminister" - dies war Gerhard Schröder (CDU, zuvor von 1933 an NSDAP) - "mir die weitere Arbeit in meinem Amt unmöglich gemacht."

Otto John 1973 in Innsbruck: "Selten so jelacht", sagte Konrad Adenauer 1954 über den Übergang seines Verfassungsschutzpräsidenten in die DDR. (Foto: Heinz Gebhardt via www.imago-images.de/imago images/Heinz Gebhardt)

Innenminister Schröder hatte nämlich angekündigt, dass man nach dem Ende des Besatzungsstatuts 1955 endlich freie Hand haben würde, "echte Fachleute" mit Verfassungsschutzaufgaben zu betrauen. Für alle Eingeweihten erkennbar bedeutete dies, die bislang verschämt als "freie Mitarbeiter" bezahlten früheren Gestapo-Leute zu ganz regulären Angestellten und Beamten zu erheben.

"Mit der SS-Blutgruppen-Tätowierung unterm Arm."

Später, zu Beginn der Sechzigerjahre, würde ein Bundesinnenminister namens Hermann Höcherl (CSU, zuvor von 1935 bis 1945 NSDAP) die Verfassungsschutz-Agenten in Schutz nehmen: "Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen." Der Journalist Theo Sommer erwiderte darauf in der Zeit: "Unter diesen Verfassungsschützern aber sind Leute, die den ganzen Tag zwar nicht mit dem Grundgesetz, wohl aber mit der SS-Blutgruppen-Tätowierung unterm Arm umherlaufen."

Die Geschichte von Otto John, dem ehemaligen Widerständler, der aus dem Innern des Verfassungsschutzes heraus sein Schweigen über diese Zustände brach, nahm dann kein gutes Ende. Die Bundesrepublik reagierte auf diesen frühen Whistleblower gnadenlos. In Bonn nahm man Johns Rückkehr aus der DDR mit Spott zur Kenntnis. Bundespräsident Theodor Heuss kalauerte über "die Rückkehr des verlorenen Johnes" und Adenauer bekannte: "Selten so jelacht."

Otto John wurde nach seiner Rückkehr als Straftäter verfolgt, 1956 verurteilte der Bundesgerichtshof ihn wegen Staatsgefährdung durch die Preisgabe "erfundener Staatsgeheimnisse" zu vier Jahren Zuchthaus, obwohl selbst Oberbundesanwalt Max Güde (CDU, zuvor von 1939 bis 1945 NSDAP) nur zwei Jahre Haft gefordert hatte. Dabei ist heute klar, dass Otto John dem KGB und der Stasi nichts verraten hatte, was diesen nicht ohnehin schon bekannt war. Die Akten sind in den Neunzigerjahren offengelegt worden, zunächst kreideten dann Historiker wie Bernd Stöver ihm noch an, nach seinem Übertritt in die DDR "immer offenherziger" geworden zu sein und seinen Stasi-Gastgebern die Namen von "elf Agenten" des Verfassungsschutzes preisgegeben zu haben, die in rechtsradikalen Parteien oder Organisationen Mitglied gewesen seien. Aber am Ende ist von dem Vorwurf kaum etwas übriggeblieben.

Gescheitert an sich selbst

Otto John starb 1997, mit 88 Jahren, vereinsamt in Österreich. Er scheiterte mit allen Versuchen, sich in der Bundesrepublik wieder zu rehabilitieren.

Und er scheiterte letztlich auch mit seinem ehrenwerten Versuch, durch den Übertritt in die DDR effektiv Alarm zu schlagen und seine Republik aufzurütteln. Im Gegenteil, Adenauer, Gehlen und auch die West-Alliierten hatten es ungerührt aufgenommen - und die Renazifizierung im Staatsapparat nahm dann noch richtig Fahrt auf. Die Schamfrist war vorüber. 1957 waren sogar 77 Prozent der leitenden Beamten im Bonner Justizministerium ehemalige NSDAP-Mitglieder, vom Referatsleiter aufwärts. In der Riege der Bundesanwälte in Karlsruhe - zuständig für politische Verfahren wie jenes gegen Otto John - waren in den Fünfzigerjahren sogar 90 Prozent frühere Parteigänger Hitlers.

Johns Nachfolger beim Verfassungsschutz wurde nach einer kurzen Interimsphase ein Jurist, der mit der Vorherrschaft brauner Seilschaften weniger Bauchschmerzen hatte, Hubert Schrübbers. Der ehemalige SA-Mann hatte als Nazi-Staatsanwalt in politischen Prozessen Anklagen geführt, Juden und Kommunisten ins Zuchthaus gebracht. Zu diesen gehörte ein Bergarbeiter, der 1934 mehrmals Geldbeträge von etwa 20 Pfennig an inhaftierte KPD-Mitglieder gespendet hatte.

Jetzt hatte die Regierung Adenauer offenbar den richtigen Mann gefunden, über die junge Demokratie zu wachen.

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