Kolumne: Vor Gericht:Eskalation in Neukölln

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Teilnehmer der Kundgebung "Steh auf! Nie wieder Judenhass!" des Zentralrats der Juden 2014 vor dem Brandenburger Tor in Berlin. (Foto: Maja Hitij/dpa)

Ein junger Israeli trägt in Berlin Kippa. Ein junger Syrer verprügelt ihn, weil er Juden hasst. Der Prozess dazu war im Jahr 2018 - und ist auf deprimierende Weise aktuell.

Von Verena Mayer

Es ist trauriger Alltag in Berlin, dass Leute auf der Straße gewalttätig werden. Oft eskalieren Streitereien, manchmal bekämpfen sich Kriminelle. Und immer mal wieder wird auf einer Berliner Straße die Gewalt ausgetragen, die eigentlich in einem anderen Teil der Welt stattfindet. Wie im April 2018 in Neukölln. Ein junger Israeli war mit seinem Freund unterwegs, den es, wie so viele seiner Landsleute, nach Berlin gezogen hatte, um hier zu leben und zu studieren. Die beiden trugen Kippa, weil sie zuvor mit Freunden Pessach gefeiert hatten. Eine Zeugin konnte sich noch genau an das Bild erinnern, das die beiden abgaben: "zwei süße schwule Jungs", die friedlich die Straße entlangliefen.

Doch zwei anderen jungen Männern gefiel das nicht. Ein 19-jähriger Syrer, der mit seinem Cousin Sachen transportierte, sah die beiden und begann, sie auf Arabisch zu beschimpfen, nannte sie "Hurensöhne" und "schmutzige Juden". Irgendwann rannte er zu ihnen, zog seinen Gürtel aus der Hose und schlug auf die Jungs ein. Als Leute eingriffen, rief er, sie sollten ihn in Ruhe lassen: "Ich bin Palästinenser."

Vor Gericht wurde klar, welche Welten aufeinandergeprallt waren. Für die Israelis war Berlin die "Traumstadt, wo alle in Frieden leben können", wie einer der beiden sagte. Dass es nicht so war, habe er in diesem Moment verstanden. "Seelisch war das schlimmer als körperlich." Für den Angeklagten war Berlin die letzte Station. Er war in Syrien als Kind palästinensischer Eltern in einem Flüchtlingslager aufgewachsen und 2015 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen. In Berlin verlor er endgültig den Halt. Er nahm Drogen, schlief auf der Straße, stahl das Geld, das er zum Leben brauchte. Das Einzige, was er noch hatte, war sein Hass auf alles, was mit Israel zu tun hat. Er entlud sich 2018 auf der Straße.

Vor Gericht saß ein schmächtiger Junge, der die meiste Zeit ins Leere starrte. Irgendwann entschuldigte er sich für seine Tat. "Das hätte ich nicht machen sollen, ich hasse niemanden, weder Juden noch Christen." Ob ihm die Bedeutung seiner Worte bewusst gewesen sei, wollte der Richter wissen. Der Angeklagte zuckte mit den Schultern. "Bei uns flucht man so."

Das Traurigste an dem Prozess war, dass die Tat, um die es ging, auch in diesen Tagen stattfinden könnte. Oder sich vor zehn Jahren hätte zutragen können. Oder in fünf Jahren passieren kann. Weil Menschen die Gewalt und den Hass, mit dem sie aufgewachsen sind, ihr ganzes Leben mit sich herumtragen und es nicht danach aussieht, als würde sich daran so schnell etwas ändern. Immerhin sah der Jugendrichter in diesem Fall noch Hoffnung. Er verurteilte den jungen Mann zu vier Monaten Jugendarrest und verpflichtete ihn, an einer Führung im Haus der Wannsee-Konferenz teilzunehmen. "Erziehungskräfte sind noch anwendbar", sagte der Richter.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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