Es gab kaum einen Autor, der gegen sämtliche Gesetzmäßigkeiten des amerikanischen Buchmarktes zu einem Superstar des Geisteslebens aufstieg, wie Mike Davis, der am Dienstag gestorben ist. Von Berufs wegen war er Historiker. In der Ideengeschichte aber war er einer der wenigen Linken von Bedeutung, die Amerika hervorbrachte. Seinen Intellekt lenkte er überall dort ins Herz des Kapitalismus, wo sonst niemand hinschaute. Er hatte die Gabe, in den Tiefen von so abseitigen Orten wie Stadtarchiven, Planungs- und Gesundheitsämtern die größeren Zusammenhänge zu finden, die zu den großen Krisen der Gegenwart führten. Diese enorme Spannweite seines geistigen Horizonts machte ihn zu einem kalifornischen Orakel. Rückblickend hatte er die Los Angeles Riots von 1992 vorausgesagt, die Naturkatastrophen der amerikanischen Westküste, die sozialen Ungleichheiten, die der Klimawandel auf globaler Ebene schafft und sogar die Pandemie. Der widmete er im Frühjahr 2020 ein schnelles Folgebuch zu seinem Bestseller "Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien", in dem er 2005 die Aussichten auf verheerende Seuchen beschrieb.
Im akademischen Betrieb aber blieb er ein Außenseiter. Was auch daran lag, dass er als "prophet of doom" (Untergangsprophet), wie sie ihn nannten, seine Kapitalismuskritik mit einem Pessimismus auflud, der in Amerika nicht üblich ist. Er erschreckte sich hin und wieder selbst vor den Schlüssen seiner eigenen Arbeit. So beschreibt er im Vorwort seines Covid-Buches "The Monster Enters", dass er sich zur Vorbereitung sein Vogelgrippenbuch erst einmal online bestellen musste. Er hatte alle seine Exemplare verschenkt. "Unbewusst wollte ich es wohl aus meinem Bücherregal entfernen, um die Angst zu vertreiben, die mit dem Schreiben verbunden war", schrieb er da. Was es seinen Kritikern immer schwer machte, war aber seine unumstößliche Integrität. Nichts brachte ihn ab vom Kurs der Wahrhaftigkeit.
Man sollte Malibu einfach niederbrennen lassen, forderte er
Angefangen hatte sein Aufstieg zum Intellektuellenstar der Linken mit seinem zweiten Buch "City of Quartz - Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles und neuere Aufsätze", das 1990 erschien. Davis war da schon 44 Jahre alt, unterrichtete Urbanismus am Southern California Institute of Architecture in Santa Monica. Schon seine Biografie und seine Erscheinung waren ungewöhnlich für die Geisteswelt. Er hatte als Fleischer und Lastwagenfahrer gearbeitet, war ein vierschrötiger Kerl mit dem Quadratschädel eines irischen Preisboxers. Seine Stadtgeschichte von Los Angeles erschien bei Verso Books, einem kleinen Verlag, der bekannt geworden war, weil er die ersten amerikanischen Ausgaben von Leuten wie Theodor Adorno, Jean Baudrillard und Giorgio Agamben veröffentlicht hatte. Davis war aber nicht nur ein Theoretiker. In seinem Sprachsog wurden die Verwicklungen zwischen Kapitalinteressen, Flächennutzungsvorschriften und dem Polizeistadtstaat der LAPD zum Thriller und Kalifornien zum futuristischen Dystopia. Mit seinen Querverbindungstheorien war er nicht nur ein Vorläufer von "Big History"-Stars wie Malcolm Gladwell oder Yuval Noah Harari. Er prägte ganze Generationen amerikanischer und europäischer Linker.
Auch wenn sich sein Blick in Büchern wie "Geburt der Dritten Welt" und "Planet der Slums" schon bald auf die Bruchlinien zwischen der nördlichen und südlichen Halbkugel richtete, blieb seine Heimat Kalifornien immer das zentrale Thema, aus dem er und sein Publikum das große Ganze ableiten konnten. 2018 veröffentlichte er im Jacobin Magazine noch einmal ein epochales Essay. "Letting Malibu Burn" war der Titel. Malibu brennen lassen. Es war die Fortsetzung seines Buches "Die Ökologie der Angst" von 2004, in dem er beschrieben hatte, wie Wirtschaftsinteressen und Immobilienmarkt die Grundlagen für die Naturkatastrophen schafften, die Kalifornien schon immer plagten. Da forderte er, man solle all die Orte nicht wieder aufbauen, die regelmäßig in Flammen, Erdrutschen oder Beben zerstört werden. Auch wenn sie zu den wertvollsten Immobilien der Welt gehörten.
Er wollte sich nicht mit großen letzten Worten verabschieden, sondern lieber fernsehen
Am Dienstag ist Mike Davis nun daheim in San Diego gestorben. Im Sommer hatte er seine Krebsbehandlung beendet. Im August gab er dem Guardian noch ein Interview, in dem er gefragt wurde, wie er denn seine letzten Monate verbringe. "Diesen Moment vermeiden, an dem Schriftsteller meinen, sie müssten sich mit berühmten letzten Worten oder einem langen Essay über das Sterben verabschieden", sagt er. "Wir schauen uns eine Menge skandinavischer Noir-Serien auf HBO am. Ich habe angefangen, viel Militärgeschichte zu lesen, was ein bisschen infantil ist. Man kann nicht erwarten, dass man in einem besonders heroischen Moment stirbt. Es wäre schön, 1968 zu sterben, oder bei der Befreiung Europas 1945. Auf den Barrikaden von 1917, 1919 mit wehenden roten Fahnen aus dem Leben zu gehen. Aber Verzweiflung ist nutzlos." Mike Davis wurde 76 Jahre alt.