Lady Gaga:Aus Kunst mach Pop

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"Artpop" oder Popart: Lady Gaga bei den MTV Video Music Awards 2013 in New York. (Foto: AFP)

"Klatscht nicht! Tanzt auf keinen Fall zu diesem Song!" Im November soll Lady Gagas neues Album "Artpop" erscheinen. Im Vorfeld präsentiert sich die Sängerin zusammen mit Kunstfreunden und gibt ihrer Nacktheit endlich wieder eine Bedeutung.

Von Joachim Hentschel

Es ist wie auf den Partygesellschaften am Hof irgendwelcher Sonnenkönige. Bei den Preisverleihungsshows des Senders MTV geht es ja nicht um die öden Gewinner, sondern darum, über wen es danach am meisten zu reden und zu twittern geben wird. Und in der Hinsicht, das muss Lady Gaga jetzt leider mal hinnehmen, geht die letzte Runde an Miley Cyrus.

Am vergangenen Sonntag, bei den MTV Video Music Awards in New York, betrat die frühere Disney-Kinderprinzessin Cyrus im hautfarbenen Porno-Bikini die Bühne, beugte sich nach vorn, winkte ihrem Duettpartner mit dem Hintern. Die medienschlauen Zuschauer merkten sofort, dass das also jetzt der Moment war, über den sie reden und twittern sollten.

Im Fleischkleid aus dem Ei gestiegen

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Lady Gaga hat in der Hinsicht auch schon blendend reüssiert, 2010 in einem Kleid aus frischem Fleisch. Oder 2011 bei den Grammys, als sie auf der Bühne aus einem überdimensionalen Ei stieg. Am Sonntag ging sie es dagegen vergleichsweise hochkulturell an. Sang zur Eröffnung der Zeremonie ihr neues Stück "Applause", vor einem Wald aus Pappblumen, den der Theatermonarch Robert Wilson ihr hingestellt hatte. Teenager-Websites analysierten hinterher allen Ernstes, welche Kunstwerke in der fünfminütigen Gaga-Choreografie zitiert worden waren: eine "Gazing Balls"-Statue von Jeff Koons, die Marilyn von Andy Warhol, zum Schluss Botticellis Venus, mit Muscheln über den Brüsten.

Gerade Lady Gaga hatte ja Anlass zur Hoffnung gegeben, es sei nun endlich vorbei mit dem doofen Fort-da-Spiel in den Karrieren von Popstars, den leidigen Platte-Interview-Tour-Verschwindibus-Ritualen. Weil sie seit 2009 so durchgängig präsent gewesen war, wie man es dank der auch nicht mehr ganz so neuen Kanäle nur sein kann. Lady Gaga, 27, New Yorkerin, eigentlich Stefani Germanotta, ist laut den nimmermüden Listenschreibern vom Forbes-Magazin derzeit die marktmächtigste Musikerin der Welt, die bestverdienende Entertainment-Prominente unter 30 (mit 80 Millionen Dollar Jahreseinkommen).

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Und unter den größeren Stars der Gegenwart die zweifellos strahlendste, riskanteste, diskurstauglichste Figur. Eine, bei der es absolut nicht egal ist, was sie als nächstes macht. Auf die alte Popkonvention greift sie nun dennoch zurück, sie hat für den 11. November ein neues Album namens "Artpop" angekündigt. Und sie lässt mit dem MTV-Auftritt und ihren diversen Videos derzeit die Aufregung wieder anschwellen, die sich zwischendurch dann doch gelegt hatte.

Am 1. September wird sie im London Roundhouse auftreten, ihr erstes richtiges Konzert seit Februar 2013, als sie die letzte Tour wegen einer Hüftverletzung abbrach. London, das könnte der Programm-Parteitag werden. "Swinefest" hat sie den Abend genannt, Schweineparty, und auf einem Plakatfoto sieht man Lady Gaga mit einer schaurigen Gasmaske aus Metall, die wie ein Ferkelkopf aussieht. Die Ähnlichkeit mit Damien Hirsts Kadaver-Installation "Pigs Must Fly" ist sicher keine Absicht, obwohl der Pappenheimer aus Bristol in diesem gewaltigen, auch gruseligen Pop-Art-Kommerz-Performance-Musik-Amalgam gerade noch gefehlt hätte.

Das ist, banal und komplex zugleich, die Botschaft der Lady Gaga für 2013: Sie will jetzt ein Kunstwerk sein. Ihr "Artpop"-Projekt sei eine "Expedition, bei der sie den Warhol-Effekt umkehren wird", stand in der zugehörigen Pressemitteilung, was wohl vor allem dem Spaß an der Formulierung geschuldet war, aber bedeuten könnte: Während Warhol Pop zu Kunst machte, will sie Kunst zu Pop machen. Oder so.

Das wollen derzeit viele. Sogar Jay Z. Der nicht unbedingt als Bergman-Gucker und Rothko-Kenner bekannte amerikanische Nationalrapper drehte sein letztes Video in der Pace Gallery in Manhattan, inszeniert als Performance mit Publikum. Im Vorspann schwafelt er davon, wie er die in Trennung lebenden Geschwister Pop und Kunst endlich wieder zusammenbringen wolle. George Condo spielt mit, Marcel Dzama, diverse Galeristen. Und natürlich die mütterlich-teuflische Marina Abramovic, die sich nach ihrer dreimonatigen Sitzshow im MoMA wohl eine eigene Postfachadresse für die Anfragen halbgarer Popbürschchen einrichten musste.

Die Kunst auf einem Quartzstein zu sitzen

Auch mit Lady Gaga hat man Abramovic in letzter Zeit oft gesehen. Ende Juli promenierten die beiden über Robert Wilsons Watermill-Center-Wohltätigkeitsfest. Bei der anschließenden Auktion soll Gaga sogar die Mäzenin Maja Hoffmann ausgestochen haben, als es um einen von Abramovics symbolisch aufgeladenen Quartzsteinen ging. Auf einem etwas größeren Exemplar sah man die Sängerin dann kurz darauf sitzen, unbekleidet, in einem spektakulären Internetvideo, mit dem sie Spenden für das geplante Schulungszentrum der Künstlerfreundin sammelte. Gaga nackt im Wald, nackt auf Quartz, im Yoga-Anzug auf dem Boden, Seehundtöne von sich gebend. So museal und unbeweglich, wie sie sich freiwillig noch nie gezeigt hatte.

Die Versuchung ist allzu groß, sich lustig zu machen über diese Posen, die den Spott schon zu erwarten scheinen, lustig machen auch über die Anmaßung und generell über den Kunst-Tick, der als Popgeste nun wirklich gar nichts Neues mehr hat. Man darf trotzdem nicht übersehen, wie großartig sich all diese Aktionen in Lady Gagas bisherige Strategie fügen.

Das Ende der sexuellen Revolution

So sehr sie auch in sozialen Netzwerken den Kontakt zu ihrem jungen Publikum sucht und hält, so deutlich hat sie sich für die Bühne stets zum Alien frisiert. Gebärdet wie eine Unnahbare, ein Fremdkörper, der den Zuschauern die Möglichkeit einer sexy-simplen Identifikation verwehrt. Die feministische Autorin Camille Paglia hat dieses Verhalten einmal als "das erschöpfte Ende der sexuellen Revolution" identifiziert, verbunden mit dem Vorwurf, Gaga habe alles Sinnliche aus ihrer Kunst getilgt.

Das trifft es ganz gut, ist aber auch genau ihre Stärke - weil die Ausdrucksmittel im Pop nur so noch irgendwie erweiterbar erscheinen und virtuelles Potential versprechen. Vielleicht lernen die Leute ja so, dass man sich vor dem Schönen auch ab und zu ein bisschen fürchten darf. Und dass ein Ferkelkopf auch zum Knutschen sein kann.

Demnach ist es natürlich ein brillanter Zug, wie Lady Gaga ihre bisher verletzlichsten Momente ausgerechnet im Kontext der bildenden Kunst präsentiert. Die Nacktheit, die derzeit in verblüffend vielen, ärgerlich sinnlosen Popvideos zu sehen ist, die man bei Miley Cyrus und ihrem bizarren Auftritt bestenfalls noch als Parodie verstehen könnte: Im Abramovic-Film, im Botticelli-Zitat bedeutet sie plötzlich wieder etwas. Etwas Rätselhaftes, nicht wirklich Twitterrelevantes.

"Plötzlich bin ich ein Koons"

Die Aura ihrer neuen, geistigen Mentoren, die expressionistischen Farben, die gezielten Uneindeutigkeiten der Performance Art könnten Lady Gaga endlich vom letzten Ballast befreien, von jeder verhassten Rückbindung ans reine Handwerk, von den fremden Blicken auf ihre Klavierhände, mit denen ein Teil der Zuschauer immer noch kontrolliert, ob sie auch wirklich spielen kann. Dass es auch ökonomisch Sinn ergibt, sich auf Dauer in Richtung des Kunstbetriebs zu bewegen, heraus aus einer Welt, in der auch ein Superstar sein neues Album für 99 Cent verhökern muss, versteht sich von selbst.

"Plötzlich bin ich ein Koons, im nächsten Moment wird der Koons zu mir", singt Lady Gaga in "Applause", der musikalisch eher mäßig interessanten ersten Single des neuen Albums. Vielleicht wird das auch die Weisheit bleiben, auf die sie sich schwarz auf weiß festlegt. Womöglich enthalten die anderen Stücke des "Artpop"-Albums - von denen sie in London einige vorstellen wird - nicht mehr als die vielfach hin- und hergespiegelten Selbstporträts, die postmodernen Gags wie die Slogans, die in einem ihrer neuen Promotionvideos zu sehen sind: "Klatscht nicht! Tanzt auf keinen Fall zu diesem Song!"

Dass die Idee, die Strategie viel interessanter ist als die Ausführung, zumindest das würde einer Kunstwerdung Lady Gagas ja nicht im Geringsten widersprechen.

© SZ vom 31.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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