Transgender-Oper: Heldenbaritonistin Lucia Lucas in "Lili Elbe"
Baritonistin. Heldenbaritonistin sogar. Seit knapp zehn Jahren ist Lucia Lucas eine Frau, ausgestattet mit einem voluminösen, ungeheuer schönen, warmen, tiefen Bariton, den sie auch knackig, zupackend einsetzen kann. Eine ihrer Lieblingspartien ist Richard Wagners Wotan. Seit 2014 ist Lucia Lucia, davor lebte sie im falschen Körper. In einem männlichen. Dann führte sie, liebevoll begleitet von ihrer Lebensgefährtin - ebenfalls eine Künstlerin - die Geschlechtsumwandlung durch. Ihr Körper ist nun der einer Frau. Geblieben ist die Stimme, wie sie vorher war. Die Stimme einer Heldenbaritonistin.
Normalerweise singt sie ganz normale Baritonpartien auf der Opernbühne, nun aber verkörpert sie zum ersten Mal eine Figur, deren Geschichte der ihrigen ähnelt (und die man vom Kino aus dem Film "The Danish Girl" kennt"): die Geschichte der Lili Elbe. Lili, anfangs noch Einar Wegener, malt sehr erfolgreich Landschaften, ihre/seine Frau Gerda malt auch. Eines Tags springt Einar als Modell für ein Porträt ein, das seine Frau malt, zieht dafür Frauenkleider an - und das Gefühl, eine Frau zu sein, tost in ihm auf. Alles, was bisher nicht stimmte im Leben, scheint klar, ein Schock. Einar wird zu Lili, erst hält das Gerda noch für eine Flause, dann versteht sie, liebevoll. Lili will weiter, will die körperliche Umwandlung. Die historische Lili starb 1931 mit Ende 40 an den Folgen ihrer vierten Operation, einer Gebärmuttertransplantation. Die gelang erstmals 2000.
Nun wurde die Oper "Lili Elbe" am Theater St. Gallen uraufgeführt, die erste Oper über einen Transmenschen, das ist selbst in diesem seit mehr als 400 Jahren genderfluiden Genre neu. Tobias Picker schrieb die Musik, die harten Expressionismus genauso kennt wie Zwanzigerjahre-Jazz und vieles mehr. Aryeh Lev Stollman schrieb das Libretto, an diesem arbeitete Lucas mit. Ein Abend voller Albträume und Hoffnungen, mit einer furchtlosen, stets faszinierenden Lucia Lucas im Zentrum, ein irisierendes Erlebnis, ergreifend in seiner Wahrhaftigkeit. Egbert Tholl
Casting-Show: Ronan Keating als Juror bei "The Voice"
Der wichtigste Satz für einen Juror bei der Casting-Show "The Voice of Germany" lautet: "Das hast du ganz toll gemacht". Kritik wird in sensible Nettigkeiten und Komplimente verpackt, um bloß nicht auf den empfindlichen Gefühlen der Kandidaten herumzutrampeln, denn das macht ja schon Dieter Bohlen bei "DSDS". In der Jury der aktuellen Staffel von "The Voice" sitzen die freundlichen Kaulitz-Brüder, die nette Shirin David und der Traum aller Schwiegermütter Giovanni Zarrella. Dazu, zum Glück, der irische Sänger Ronan Keating. Den kennt man von der Schmalz-Formation Boyzone. Wer aber denkt, er spüle deshalb besonders weich, der irrt. Keating ist so wohltuend streng wie der Wind an den Cliffs of Moher. Völlig unbestechlich durch sexy Auftritte oder bebende Stimmbänder gefühliger Nachwuchssänger schickt er gnadenlos einen nach dem anderen nach Hause. "Es gibt keinen Grund, Leute durchzubringen, die nicht bereit sind", sagt Keating. Recht hat er. Christiane Lutz
Film: "Eleonore" mit Michel Piccoli und Liv Ullmann auf DVD
Als der Edelmann Richard in seine Burg zurückkehrt, liegt seine Frau Eleonore im Sterben. Ihr Pferd stürzte auf sie, ihr Brustkorb ist zertrümmert. Richard zerrt das Pferd in den Stall und erschlägt es. Er nimmt sich eine neue junge Frau, sie gebiert ihm zwei Söhne. Richard kann die geliebte Tote nicht vergessen, ein teuflischer Fremder bringt sie ihm ins Leben zurück. Im Dorf verschwinden nun Kinder, ein Mädchen kommt deswegen als Hexe auf den Scheiterhaufen. Dann erreicht die Pest das Dorf. Michel Piccoli schaut als Richard aus wie Sean Connery in seiner "Der Name der Rose"-Ära. Liv Ullmann ist im flammendroten Kleid das verzehrende Leben. "Eleonore" (auf DVD bei Pidax) ist eine kleine mittelalterliche Fantasie von Juan Luis Buñuel, dem Sohn des großen Luis, über Zeugungskraft und Überlebenswillen und das Schwert des Mannes. Mit elegisch verspielter Musik von Ennio Morricone, zu dem im Münchner Filmmuseum soeben eine Retrospektive startete. Fritz Göttler
Musiker-Biografie: Memoiren des großen Cellisten David Geringas
Wer glaubt, die Memoiren von Musikern seien vor allem Ansammlungen von Namen anderer Musiker, Aufzählungen von Stücken, Berichte von Ehrungen und besonderen Vorfällen, dazu ein Haufen von Anekdoten, hat zuerst einmal recht. Das alles kommt auch in diesem sehr lesenwerten Buch ausführlich vor, dessen Inhalt der große, aus Litauen stammende Cellist David Geringas dem Musikkritiker Jan Brachmann erzählt hat. Die beiden haben die Corona-Jahre dann genutzt und aus Geschichten und Erinnerungen dieses veritable Buch gemacht. Kleine Ungenauigkeiten bei Namen und Druckfehler trüben den Gesamteindruck nicht.
Geringas, 1946 in Vilnius geboren, erzählt eindringlich und nachvollziehbar beklemmend von den politischen Umbrüchen, von gesellschaftlichen Zwängen und Nöten der Sowjetwelt, in der er fast dreißig Jahre gelebt hat, erfolgreich als Musiker, aber im sonstigen Leben bedrängt und immer des angstvoll warnenden Satzes des Vaters eingedenk: "Sag das niemandem", der zum Buchtitel geworden ist. Es beginnt mit dem Tod Stalins, den der damals Sechsjährige anders wahrnahm, als es die Großen taten. "Danach begannen vier glückliche Tage. Alle Erwachsenen, die Eltern, die großen Brüder, die Lehrer haben geweint, als sei das Ende der Zeit gekommen - doch wir hatten schulfrei!" Später erzählt Geringas von den "Klopfern", die dem jungen Musiker begegnen und ihn mit Denunziation bedrohen und aushorchen wollen. Man erfährt hautnah jenen psychischen Dauerstress des sowjetischen Alltagslebens, in dem die Musik fast die einzige Befreiung darstellt.
Großen Raum nimmt natürlich die Begegnung mit Mstislaw Rostropowitsch ein, der das Leben und Spiel von Geringas fundamental geprägt hat. Als der Meister durch sein Engagement für den verfemten Alexander Solschenyzin selbst zur unerwünschten und totgeschwiegenen Person wird und in den Westen emigriert, folgt ihm Geringas mit seiner Frau Tatjana bald nach. Auch der zweite Anfang, nun in Deutschland, gerät zuerst holprig, mit Enttäuschungen und Bitternissen. Doch bald setzt sich die musikalische Qualität und Kraft dieses imponierend vielseitigen, stets neugierigen Musikers triumphal durch, der auch einer der bedeutenden Lehrmeister heutiger Cellistengenerationen geworden ist. Harald Eggebrecht
Fotografie: Ken Narulas Leica-Buch "Iris & Lens"
Dass und warum manche Foto-Liebhaber eine besondere Leidenschaft für die Leica haben, zeigt Ken Narulas zweibändige Dokumentation "Iris & Lens" (Steidl-Verlag). Darin präsentiert der Sammler 50 seltene (und unfassbar teure) Leica-Objektive - eingetaucht in ein mythisches Halbdunkel und für diejenigen, die vom Leica-Virus befallen sind, krankmachend begehrenswert. Da Narula aber nicht nur Sammler, sondern auch Fotograf ist, zeigt er auch einige Fotos, die er mit diesen Kostbarkeiten gemacht hat. Das sind typische Leica-Bilder in Schwarz-Weiß: weiche Schärfe, verschwimmende Hintergründe, romantisch und wie aus der Zeit gefallen, emotional, existenziell. Wer noch nie ein Leica-Foto gesehen hat, wird nach Ansicht der schön gemachten Bände nie mehr von einer anderen Kamera-Marke träumen. Marc Hoch