Augenmontage: "Adieu au langage"
Für Jean-Luc Godard hat das Kino noch einen anderen Namen: Montage. Also die Annäherung zweier möglichst weit voneinander entfernter Bilder. Das bringt der (natürlich unverständliche) Gott des Kinos in "Adieu au langage" dank 3 D auf einen Punkt, den nur Er machen konnte. Da sitzt eine Frau in einem Wohnzimmer, ein Mann läuft vor ihr auf und ab. Oder nicht? Denn wir erkennen nämlich auf einmal gar nichts mehr. Warum? Weil man beide Bilder gleichzeitig sieht: die sitzende Frau auf dem linken, den sich von ihr entfernenden Mann auf dem rechten Auge. Schließt man ein Auge, sieht man auf dem anderen deutlich dessen eines Bild. Hat man aber beide offen, macht man die Montage mit den eigenen Augen. Und alles verschwimmt - würde man "sagen". Denn was soll man dazu noch sagen? Adieu au langage, bonjour cinéma. Lust: "Nymphomaniac Vol.1", Lars von Trier Frust: "Kreuzweg", von Dietrich Brüggemann Zoé Bruneau in einer Szene von Jean-Luc Godards "Adieu au langage".
Mikroheiß: "American Hustle"
Er hat's ihr doch gleich gesagt, also ist die Frau nun echt genervt. Kein Metall in die Mikrowelle, aber sie hat ein Alufoliengericht reingesteckt und den Apparat in Flammen gesetzt. Ende der Siebziger, New Jersey, die Mikrowelle war noch eine neue Errungenschaft, fuckin' science oven. Weißt du, ich hab gelesen, es zieht alle Nährwerte aus dem Essen. Es ist leer. Wie deine Deals . . . Sollte das ein Augenblick der Wahrheit sein, in einer Welt, wo alles auf Schau ist, trickserisch, egal ob es um Betrüger, Politiker, FBI-ler geht? Ostküsten-Kitchensink von David O. Russell. Und ein tolles Paar, Rosalynn und Irving, Jennifer Lawrence (schneckelig blondgetürmt) und Christian Bale (schlichtweg behäbig), die charismatischen Führerstars des Jahres, Katniss & Moses. Lust: "In Sarmatien", von Volker Koepp Frust: "Monuments Men", von G. Clooney Schneckelig blondgetürmt: Jennifer Lawrence als frustrierte Hausfrau in "American Hustle".
Alter Ego: "The Grand Budapest Hotel"
Wes Andersons feingestrickte, wahnwitzige Familiengeschichte ist bis in die hintersten Winkel ausgeschmückt und durchdacht - fast eine künstlerische Grundsatzerklärung. Ein Muss schon allein wegen Ralph Fiennes als Monsieur Gustave, akkurater Concierge auf einem fiktionalen mitteleuropäischen Zauberberg und Andersons Alter Ego: ein pedantischer, sentimentaler Weltgestalter. Nur einmal, in der Mitte des Films, muss er die Kontrolle abgeben: Rußverschmiert steht er mit seinem treuen Lobbyboy in einem einsamen Telefonhäuschen mitten im Nirgendwo. Zur Rettung aber wird der Geheimbund der Concierges alarmiert - und jedes Mitglied, angefangen beim großen Bill Murray, ist tatsächlich eine Legende. Ein irrer Fabelritt! Lust: "20 000 Days On Earth", I. Forsyth Frust: "The Zero Theorem", von T. Gilliam Ralph Fiennes als Monsieur Gustave (links) und Tony Revolori als Page Zero in "The Grand Budapest Hotel".
Fliegen mit Stil: "Wie der Wind sich hebt"
Filmemacher sind Traumingenieure, in besonderem Maß gilt das für die Trickfilmer. Anime-Meister Hayao Miyazaki lässt in "Wie der Wind sich hebt" seinen Helden auf der Tragfläche eines fliegenden Flugzeuges spazieren; und das ist kein tollkühner Stunt, sondern ein rauschhafter Spaziergang in italienischen Farben. Dabei unterhalten sich der Träumer, der spätere Flugzeugingenieur Jiro Horikoshi, und sein Vorbild, der italienische Flugzeugbauer Giovanni Battista Caproni, darüber, wie man Visionen baut und welchen Preis das hat. In der Figur von Jiro entwirft Miyazaki auch ein Selbstporträt. Und während sie träumen, gestalten Jiro und Caproni luzide ihren Traum, völlig losgelöst von Schwerkraft und Wahrscheinlichkeit. Das hat Stil: So heftig der Wind auch weht, Graf Capronis Hut sitzt immer fest auf dem Kopf. Lust: "Die geliebten Schwestern", D. Graf Frust: "Winter's Tale", Akiva Goldsman Völlig losgelöst von Schwerkraft und Wahrscheinlichkeit: der spätere Flugzeugingenieur Jiro Horikoshi in "Wie der Wind sich hebt".
Cooler Wurf: "Les Salauds"
Ausgerechnet ein Seemann ist Vincent Lindon in diesem Thriller. Er muss vom Meer nach Paris, rein in eine dreckige Geschichte. Es geht um reiche Herren mit perversen Neigungen, um junge Mädchen - und um Rache. Claire Denis inszeniert knapp und düster, man sieht ihr Interesse für die Nuancen des Lasters: Lindon steht nachts auf dem Balkon, allein, er raucht. Unten stöckelt die Nachbarin übers regennasse Pflaster, sie würde auch gern rauchen, aber es ist zu spät, um Zigaretten zu kaufen. Lindon zieht sein Hemd aus, wickelt eine Schachtel von den seinen hinein und wirft es ihr vor die Füße. Der helle Stoff fängt alles Licht der Straße, er signalisiert ein ganz anderes Angebot als nur die Zigaretten. Mit einem nonchalanten Wurf hat Lindon die Mischung aus Begehren und Berechnung demonstriert, die Claire Denis' Figuren umtreibt. Lust: "Clouds of Sils Maria", O. Assayas Frust: "Wish I Was Here", von Zach Braff Die Mischung aus Begehren und Berechnung: Vincent Lindon und Lola Creton in einer Szene von "Les Salauds - Dreckskere".
Im freien Fall: "The Amazing Spider-Man 2"
Das Mädchen stürzt in die Tiefe, der Junge springt hinterher. Aus Liebe natürlich, aber auch wegen des gnadenlosen Superhelden-Rettungsimperativs. Sie fallen im Innern eines gigantischen düsteren Glockenturms, dessen Uhrwerk zerborsten ist. Hunderte kleine und große Zahnräder regnen in einem Funkensturm nach unten, zwischen ihnen das Mädchen, sie streckt noch die Hand nach dem Jungen aus, die Schwerkraft zerrt an ihren lange, blonden Haaren - und dann bricht Regisseur Marc Webb in Zeitlupe mit allen Regeln des Blockbuster-Kinos. Um die zärtlich-traurige Liebesgeschichte von zwei Menschen zu bezeugen, die einander unbedingt festhalten wollen, obwohl sie längst wissen, dass sie es nicht können. Lust: "Boyhood", von Richard Linklater Frust: "Pompeii", von Paul W. S. Anderson Andrew Garfield als New Yorks beliebter Beschützer Spider-Man.
Aufatmen: "Das Salz der Erde"
Zuerst der Blick ins tiefste Dunkel der Hölle, dann der paradiesische Ausblick, der magische Moment des Aufatmens, der Erlösung: wenn die ersten Bilder von Salgados Wiederaufforstungsprojekt erscheinen. Ein ehemals verödeter Landstrich blüht auf. Baumgrün, Quellwasser, Vögel. Als würde die Welt, die in der Düsternis von Kriegen und Katastrophen zu versinken drohte, endlich wieder farbenfroh aufleben. Ähnlich wie in Wenders' "Der Himmel über Berlin", wenn sich der Engel in die Trapezkünstlerin verliebt und plötzlich Farbe in die Schwarz-Weiß-Bilder einströmt. Wenders zeichnet nicht nur ein Porträt des Fotografen Sebastião Salgado, sondern eröffnet eine Welt-Vision, wobei Salgados Fotografien, die für sich nur Zeitzeugenschaft beanspruchen, prophetische Kraft gewinnen. Lust: "Land der Wunder", A. Rohrwacher Frust: "Die geliebten Schwestern", D. Graf Zwei Pathetiker in einem Film: Wim Wenders (links) und Sebastião Salgado in "Das Salz der Erde".
Superbreit: "The Wolf of Wall Street"
Was Exzess und Partylaune angeht, will sich Anlagebetrüger Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) hier von keinem übertrumpfen lassen - so wenig wie Martin Scorsese. Der Höhepunkt kommt nach einer Überdosis Quaaludes, als DiCaprio in die nur von ihm sogenannte "spastische Phase" verfällt. Es sind nur wenige Meter bis zu seinem Lamborghini, aber die kann er nur noch robben bzw. rollen - nämlich die Treppe runter. Wenn man vor Lachen schon nicht mehr kann, verklemmt er sich beim Öffnen des Wagens auch noch den Fuß und wird von der Lamborghini-Flügeltür kopfüber in die Höhe gezogen - ein Bild für die Götter. Während draußen der Hass auf alles wächst (unter anderem die Wall Street), verteidigt das Kino hier sein ältestes Geburtsrecht: auf Slapstick, Unsinn und Unvernunft. Lust: "Nightcrawler", von Dan Gilroy Frust: "Maps To The Stars", von David Cronenberg Exzess und Partylaune: Leonardo DiCaprio als Jordan Belfort in "The Wolf of Wall Street".
Fluss der Zeit: "Boyhood"
Eine Kindheit im 21. Jahrhundert und zugleich ein Panorama der Zeit, so wahrhaftig wie das Leben - nur der Soundtrack und die Dialoge sind besser: In "Boyhood" hat Richard Linklater das Prinzip der dokumentarischen Langzeitbeobachtung auf den Spielfilm übertragen. Aus dem Fluss der Zeit stechen immer wieder besondere Momente hervor: Wenn der Wochenend-Vater sein Auto abrupt an den Straßenrand lenkt, weil er sich mit ein paar hingenuschelten Worten nicht zufrieden gibt, bitte schön etwas Reelles aus dem Leben seiner Kinder erfahren will! Das Mixtape, auf dem er für seinen Sohn ein persönliches "Schwarzes Album" aufgenommen hat, auf dem die Solosongs der Beatles ihre eigene Geschichte erzählen. Die Mutter, die ihre Melancholie über das Flüggewerden ihrer Kinder überspielt, indem sie resolut das alte Leben auflöst. . . Einfach zum Süchtigwerden! Lust: "Phoenix", von Christian Petzold Frust: "#Zeitgeist", von Jason Reitman Der Vater will was Reelles erfahren: Mason (Ellar Coltrane) und Mason senior (Ethan Hawke) in "Boyhood".
Seegewohnheit: "All Is Lost"
Ein Überlebenskampf auf hoher See, in totaler Einsamkeit, den muss Robert Redford durchstehen in J.C. Chandors One-Man-Drama "All Is Lost". Als schon klar ist, dass die Yacht sinken wird und er mit ein paar Dingen, die ihm im menschenleeren Indischen Ozean noch helfen könnten, ins Rettungsboot hinübermüsste, watet er noch einmal zum Spiegel auf dem Boot und beginnt, sich zu rasieren. Das ist, im ersten Augenblick, eine irritierende Szene: rasieren, im Angesicht des Todes? Und sie hat dann doch etwas ganz Wahrhaftiges - wie dieser Mann sich das letzte bisschen Normalität nimmt, das er noch kriegen kann. Das Leben ist die Summe von Tausenden Kleinigkeiten - und vielleicht begreift man erst wirklich, was das bedeutet, wenn es nichts Großes mehr zu tun gibt. Lust: "Wolf of Wall Street", M. Scorsese Frust: "Nymphomaniac", L. von Trier. In totaler Einsamkeit: Robert Redford in "All is lost".