Chöre und Corona:Im Aerosol der anderen

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Singverbote gibt es in der Hauptstadt nun nicht mehr, normal ist in der gesamten Chorszene aber immer noch gar nichts.

Von Kathleen Hildebrand

Die Berliner dürfen wieder singen. Nach lauter Kritik, die das Ende ganzer Chöre in der Hauptstadt angekündigt hatte, traf sich Kultursenator Klaus Lederer am Dienstag mit Vertretern des Berliner Chorverbands, des Landesmusikrats, der Kirchen und der Rundfunkchöre. Danach war das Singverbot, das seit dem 23. Juni und in dieser Schärfe nur noch in Berlin galt, gekippt. Wenn sie sich an Hygienevorschriften halten, dürfen die Berliner nun also wieder zusammen singen, Profis wie Laien. Das Verbot in der Hauptstadt war wohl auch deshalb so streng gewesen, weil sich hier im März mehr als die Hälfte der Mitglieder des Berliner Domchors bei einer Probe mit dem Coronavirus angesteckt hatten. In Bayern etwa sind Chorproben unter strengen Auflagen seit Ende Juni wieder erlaubt. Zu den Auflagen zählen regelmäßiges Lüften und ein Abstand von mindestens zwei Metern zwischen den Sängern. Die Vorgaben der Berufsgenossenschaft für professionelle Sänger sind allerdings restriktiver, sie fordern Abstände von bis zu sechs Metern.

Die Situation der Chöre ist noch immer weit von der Normalität entfernt. Im Juli haben zwei aktuelle Studien bestätigt, was Wissenschaftler erwartet hatten. Das Coronavirus wird hauptsächlich durch Tröpfcheninfektion übertragen. Die Gefahr sich so zu infizieren, ist beim Singen nachgewiesenermaßen kaum größer als beim Sprechen. Ein weiteres Infektionsrisiko stellen jedoch die sogenannten Aerosole dar, winzige unsichtbare Flüssigkeitsnebel, die sich mit der Luft in Räumen verbreiten können. Auf diese Weise können sich bei einer Chorprobe auch Menschen mit dem Virus infizieren, die nicht unmittelbaren Kontakt zu einer infizierten Person hatten.

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Die Salzburger Festspiele sind das einzige große Sommer-Festival, das in diesem Jahr stattfindet

Eine Studie, die das Hermann-Rietschel-Institut (HRI) der Technischen Universität Berlin gemeinsam mit der Klinik für Audiologie und Phoniatrie an der Berliner Charité durchgeführt hat, legt nahe, dass es beim Singen bis zu 30-mal höhere Emissionsraten für Aerosole gibt, im Vergleich zum Sprechen.

Auch das Klinikum der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität hat zusammen mit dem Universitätsklinikum Erlangen und dem Chor des Bayerischen Rundfunks Experimente zur Aerosolausbreitung gemacht: Bis zu eineinhalb Meter weit breiten sich demnach eingeatmete Gase beim Singen im Raum aus. Was außerdem sichtbar wird: Nicht nur nach vorne, auch nach den Seiten verteilt sich das Aerosol. Die Studienleiter empfehlen einen Abstand nach vorne von zwei bis 2,5 Metern, zur Seite 1,5 Meter. Wenn keine gute Durchlüftung gegeben ist, müssen Abstände und der Raum sehr groß sein. Ganz pessimistisch wollen die Studienleiter ihre Ergebnisse trotzdem nicht verstanden wissen. Auf ihrer Grundlage seien individuelle Hygienekonzepte möglich.

Modellrechnungen zur Aerosolverteilung in großen Konzertsälen verschiedener Bauart, welche die Berliner Wissenschaftler erstellt haben, legen außerdem nahe, dass bei geringer Zuschauerzahl Aufführungen mit sehr geringem Infektionsrisiko möglich seien. Das Freiburger Institut für Musikermedizin empfiehlt darum in seiner Risikoeinschätzung, die laufend aktualisiert wird, das Infektionsrisiko schon vor den Proben zu minimieren: Die Teilnehmer sollten ihren eigenen Gesundheitszustand genau beobachten, etwa durch Fiebermessen, und sich gegebenenfalls auf das Coronavirus testen lassen.

Diesen Weg gehen zum Beispiel die Salzburger Festspiele, die in diesem Jahr als einziges der großen Sommer-Festivals stattfinden. Die Musiker müssen sich vor der Anreise auf Corona testen lassen. Während der Festspiele sollen sie regelmäßig Fieber messen und ein Gesundheits- und Kontakttagebuch führen.

Am 1. August eröffnet Richard Strauss' "Elektra" die Festspiele, die bis zum 31. August dauern. Infektionstechnisch ist das erst einmal eine eher unproblematische Oper: Der Chor singt darin nur etwa drei Minuten lang. Am 17. August wird allerdings Beethovens neunte Sinfonie aufgeführt und zwar mit großem Chor. Ernst Raffelsberger, der die Einstudierung mit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor macht, ist am Telefon trotzdem überraschend ruhig: Die Chorpartie in "Elektra" wird live übertragen, wahrscheinlich aus dem Saal nebenan. Und die Neunte? Da werde man sehen müssen. Die Bühne im Festspielhaus sei vorsichtshalber vergrößert worden, damit überhaupt Abstände zwischen den Chorsängern möglich sind. Proben für seine beiden Aufführungen gab es bisher nur sehr wenige in Wien. Einen Tag nachdem sie im März begonnen hatten, kam der Lockdown. "Es ist ein gewisses Abenteuer", sagt Raffelsberger. Doch: "Durch die lange Probenpause habe ich nun einen ausgeruhten Chor, und die Lust ist bei allen sehr groß, endlich wieder singen zu können." Vielleicht ist Ernst Raffelsberger auch deshalb so gelassen, weil vieles, was wegen Corona passiert, für ihn Opernchoralltag ist: Stimmlich auch über Entfernungen zusammenfinden, im Kostüm singen - und etwas anderes ist so ein Mund-Nasen-Schutz, der als Sicherheitsverschärfung noch denkbar wäre, auch nicht. "Schon das Tragen eines Hutes verändert die Wahrnehmung der eigenen Stimme".

Viele Opernhäuser kündigen in der Sommerpause derweil Änderungen in den Spielplänen an. Gestrichen oder verschoben werden vor allem Aufführungen mit großer Solisten-, Chor- und Orchesterbesetzung. Die Dresdner Semperoper spielt im Herbst erst einmal nur "Essenzen", also konzertante, gekürzte Versionen in kleiner Besetzung aus dem Repertoire. Bei Verdis "Don Carlo" mit Anna Netrebko, der im Mai ebenfalls konzertant und vor nur 300 Zuschauern gespielt wurde, hat das schon gut funktioniert: "Natürlich hätten wir das lieber mit voller Besetzung gespielt", sagt Jan Hoffmann, der den Opernchor im vergangenen Jahr kommissarisch geleitet hat. "Aber diese Kammerversion: Das hatte auch was."

© SZ vom 23.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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