Investigativ:Hier ist John Doe

Lesezeit: 5 min

Panama Papers: Ein Whistleblower stieß eine spektakuläre Enthüllung an. (Foto: Christof Stache/afp)

Investigative Recherche gab es bei der SZ immer schon. Aber seit den 1990er-Jahren kümmert sich ein eigenes, mittlerweile weltweit vernetztes Ressort um Enthüllungen von Skandalen - wie den Panama Papers.

Von Ralf Wiegand

Es gibt so eine Legende - und was wäre ein besserer Anlass als ein Jubiläum, um von "früher" zu erzählen - die handelt von Sporttaschen, Münzgeld und ganz heißen Infos. Denn diese Hilfsmittel, Tasche und Münzen, so erzählt es ein alter Fahrensmann des Investigativjournalismus, seien früher ungeheuer hilfreich gewesen, um eine exklusive Geschichte an Land zu ziehen. Man sei also losgereist mit einer Handvoll Groschen in der Jeans und der Tasche unterm Arm, habe einen Informanten mit brisanten Unterlagen getroffen, sei mit ihm in den nächsten Copyshop gegangen, habe die Münzen in den Kopierer geworfen, die so gewonnenen Duplikate in die Sporttasche gesteckt und wieder heimgereist. "Beschaffer" heißen diese Spezialisten in der Branche, und es gibt sie noch heute - wenngleich sie inzwischen eine Scanner-App auf dem Smartphone haben.

Investigativer Journalismus hat im langen Leben der SZ eine vergleichsweise kurze Tradition, zumindest in seiner organisierten Form: als Ressort "Investigative Recherche". Das gibt es so erst seit Ende der 1990er-Jahre. Investigativ zu arbeiten, also neugierig, hartnäckig, präzise, unbestechlich zu sein, die Fakten zu prüfen, die falsche Spur fallen zu lassen, an der richtigen dranzubleiben, öffentliches Interesse und Persönlichkeitsrechte anhand von Kriterien wie etwa gesellschaftlicher Relevanz sorgfältig abzuwägen, Informanten zu pflegen, aber vor allem zu schützen, jeden zu konfrontieren, über den man berichten möchte: Das alles ist ja keine Frage von Ressorts. Das ist eine Methode des Journalismus, Handwerk, und das geschah natürlich auch zuvor schon in der SZ.

Das Ressort aber entstand erst nach dem Wechsel von Hans Leyendecker, der 1997 vom Spiegel zur SZ kam. Leyendecker mit dem Aufbau einer neuen Mannschaft zu betrauen, war ungefähr so spektakulär, als würde man einen neuen Fußballverein gründen, in dem man als Erstes Lionel Messi verpflichtet: Einfach mal den Besten nach München locken und dann schauen, was draus wird. Und es wurde was. Das Ressort wuchs, gewann über die Jahre alle renommierten Journalistenpreise, viele mehrmals, und ist längst vom Rand der SZ-Gesamtredaktion in deren Mitte gewandert: Investigative Recherche gehört zur Grundausbildung im Volontariat.

Der entscheidende Faktor: Zeit

Wenn aber doch jede Journalistin, jeder Journalist investigativ arbeiten kann, warum braucht die Zeitung dafür dann ein eigenes Ressort? Das hat etwas mit dem für viele Recherchen ganz entscheidenden Faktor zu tun: Zeit. Für die großen Aufdeckungen, für die echten Enthüllungen muss man oft viele, viele Runden drehen, auch solche, die einen tatsächlich nur ergebnislos im Kreis herum führen. Deswegen müssen investigative Journalisten die Freiheit haben, im normalen Rhythmus einer modernen Tageszeitung, die längst ein 24/7-Echtzeitnachrichtenbetrieb geworden ist, nicht auftauchen zu dürfen. Sie sind kein Faktor für die Slot-Planung am Newsdesk, für die Produktion der Spätausgabe, nicht einmal für den reibungslosen Sonntagsdienst. Investigative genießen den Luxus, allein ihrer Recherche folgen zu dürfen, die dauert, so lange sie eben dauert. Oft sind dafür Akten zu beschaffen, und die beschafften Akten muss man dann auch noch lesen, manchmal Tausende Seiten, und nach dem Lesen kommt das Verstehen. Auch Informanten und Experten halten sich an keinen Dienstplan.

Schon 1976, unter dem Eindruck der Watergate-Enthüllung, notierten die US-amerikanischen Autoren David Anderson und Peter Benjaminson in ihrem Lehrbuch über "Investigative Reporting": Die einzige plausible Definition für einen investigativen Journalisten sei ein Journalist mit viel Zeit, um Dinge zu untersuchen. Wenn das Investigativressort der SZ für Großrecherchen wie die Panama Papers oder den pensionierten Hunsrück-007 Werner Mauss wochenlang abtauchte, die Türen absperrte, die Konferenzen schwänzte, dann verlangte das auch von der Chefredaktion eine Menge Geduld. Wird das noch mal was? Wie lange dauert das? Die Investigativen bei der SZ haben allerdings das Glück, eine Investigativ-affine Chefredaktion zu haben. Da wird dann vielleicht mal schwer durchgeatmet, okay, aber sonst ist da viel Vertrauen, dass hinter den verschlossenen Türen gearbeitet und nicht gechillt wird.

Bei den großen Informationslecks der vergangenen Jahre hat die Redaktion nicht nur eine besondere, leicht schrullig anmutende Liebe zur Alliteration entwickelt - China Cables, Pegasus Projekt, Suisse Secrets -, sondern auch zur Nachtarbeit. Millionen von Datensätzen aus karibischen Steueroasen auszuwerten, zigtausend Telefonnummern auf Existenz und Virenbefall zu überprüfen oder Satellitenbilder aus China nach Hinweisen auf mögliche Straflager für Uiguren abzusuchen, ist Fleißarbeit, für die sich die Redaktion jedesmal unsichtbar macht. Da reicht der Pförtner mitten in der Nacht schon mal Gummibärchen über den Tresen: "Sie sind doch einer von den Geheimen? Für Ihre Nerven."

Mit dem Pulitzerpreis geehrt

Durch große internationale Kollaborationen wie für die Panama Papers, der weltweiten Auswertung eines Datensatzes aus einer panamaischen Anwaltskanzlei, hat sich der investigative Journalismus nachhaltig verändert. Die Informationen über Briefkastenfirmen und Scheindirektoren waren ursprünglich der Süddeutschen Zeitung zugespielt worden. Weil diese spezielle Art der Steuervermeidung oder Geldwäsche aber weltweit stattfindet und oft Dutzende von Firmen ineinander verschachtelt werden, um Geldflüsse zu verbergen, hat auch der Journalismus gelernt, global zu reagieren.

Die SZ teilte die Daten des Whistleblowers "John Doe", der seine Identität bis heute nicht preisgegeben hat, mit dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) und darüber hinaus mit weiteren rund 400 Journalistinnen und Journalisten aus allen Teilen der Welt. Ein gutes Jahr lang arbeitete diese über Kontinente hinweg vernetzte Gruppe so gut zusammen, dass kein Sterbenswörtchen nach draußen drang. Die gemeinsame Veröffentlichung am Abend des 3. April 2016 setzte neue Maßstäbe für solche Art von Kooperationen. Bastian Obermayer und Frederik Obermaier, die diese Form des internationalen Investigativjournalismus bei der SZ etabliert haben, reisten gut ein Jahr später nach New York - wo die Panama Papers mit einem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurden.

Noch gibt es zwar den Typ einsamer Wolf, der regelmäßig sein Revier abschreitet, um jedes Fitzelchen an Information aufzuschnappen. Der nie über etwas berichten würde, was andere schon mal geschrieben haben, wie es der Leitende Redakteur Jörg Schmitt ausdrückte. Solche Leute verfügen über Kontakte als ihr Kapital, kennen zu jedem Gerücht die passende Clearingstelle, von jedem Beschuldigten den Anwalt. Aber auch bei einer Autorenzeitung wie der SZ, wo manche Schreiberin und mancher Schreiber einst so sensibel auf einen zweiten Namen in der Autorenzeile reagierte wie die sieben Zwerge ("Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?"), ist Investigativjournalismus heute überwiegend Mannschaftssport. Die Beschaffer lassen ihre Erkenntnisse von Datenjournalisten verifizieren, die Experten für Open Source Intelligence (Osint) recherchieren im Internet den Stoff, mit dem Reporter auf Reisen gehen können.

Gummibärchen für Informanten

Und jeder im SZ-Ressort kann der Fact-Checker des anderen sein. Am Ende entsteht so zum Beispiel eine achtseitige Wirecard-Dokumentation als Gemeinschaftsprodukt von 15 Leuten, ein Experiment mit 52 Minuten Lesezeit, das die Redaktion ihren Freaks vom Investigativen klaglos durchgehen lässt. Und da sind die stundenlangen Sitzungen mit der Hausjuristerei aus dem 26. Stock noch gar nicht mitgerechnet.

Ohne die Juristinnen und Juristen würde es das Investigativressort ohnehin überhaupt nicht geben, es wäre entweder schon weggeklagt worden oder hätte nie eine Geschichte veröffentlicht - aus Sorge, der Schadenersatz für eine schlecht gemachte Verdachtsberichterstattung könnte den Verkaufspreis einer SZ-Wochenauflage übersteigen. Im stets lehrreichen, bisweilen lustigen, immer vertrauensvollen Dialog mit der Fachabteilung Recht tastet sich das Investigativressort über das dünne Eis der Verdachtsberichterstattung. Hier das unbedingt zu schützende Persönlichkeitsrecht, dort das überragende öffentliche Interesse an der Berichterstattung: Wenn alle ihren Job richtig gut machen, kommt so etwas wie die Berichterstattung über das Ibiza-Video heraus, und die SZ gewinnt die Verfahren gegen eine entzürnt klagende gestürzte österreichische Regierung.

Am Anfang der meisten dieser Geschichten, für die die Süddeutsche Zeitung ausgezeichnet wurde, steht aber ein Informant, ein mutiger Mensch, der eine Information teilen möchte. Mit uns. Sollten Sie dieser Mensch sein, so finden Sie die Übermittlungswege über unsere Kontaktseite im Internet - oder sie geben einfach beim Pförtner in der Hultschiner Straße einen Umschlag ab, ganz anonym. Vielleicht bekommen Sie dann auch Gummibärchen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: