SZ-Innenpolitikredakteurin Heidrun Graupner, zuständig für Soziales, hatte von Beginn an mit besonderem Interesse den Aufstieg des jüngsten Mitglieds in Helmut Kohls Kabinett ab 1990 verfolgt: erst 37 Jahre alt, eine der wenigen Frauen, aus den noch wirklich ganz neuen Bundesländern außerdem. In ihrer Seite Drei über Familienministerin Angela Merkel schrieb die SZ-Journalistin etwas, was sich als sehr zutreffend erweisen sollte: Sie ist "schlagfertig, ohne polemisch zu werden, sehr selbstbewußt und - vor allem - hartnäckig".
"Wertkonservativ" ist vielleicht das Wort, an dem sich die Wandlung der Angela Merkel festmachen läßt. Als sie im Januar zur Bundesfrauen- und Jugendministerin berufen wurde, hieß es hier und da, die 37jährige Physikerin bezeichne sich als "wertkonservativ". Das Wort ärgerte sie damals sehr - so etwas habe sie nie gesagt, sie wisse gar nicht, was wertkonservativ bedeute. Heute weiß sie es. Und sie wehrt auch nicht ab, wenn sie so charakterisiert wird: Denn wenn man nicht verhindere, daß aus einem gut funktionierenden Gemeinwesen einzelne Steine herausgezogen werden, dann stürze das ganze Gebilde zusammen. Angela Merkel hat viel gelernt in den zwei Jahren ihrer steilen politischen Karriere, die voraussichtlich auch in nächster Zeit - der CDU-Vorstand tagt am 14. Oktober - einen gewaltigen Sprung nach oben machen wird, gleichgültig, ob sie als Nachfolgerin von Lothar de Maizière zur Stellvertreterin des Parteivorsitzenden gekürt wird oder einen anderen Posten in der CDU-Spitze erhält. Nichts zu sagen, das hat sie beispielsweise gelernt, sich in keinem Fall verleiten zu lassen, über die eigene Zukunft, über den Posten der Stellvertreterin, zu spekulieren. "Wir warten den Lauf der Geschichte ab", sagt sie.
Am Anfang ihrer Bonner Geschichte steht ein altgedienter Fahrer des Ministeriums, der ihr prophezeite: "Sie werden sich wundern, wie Sie sich in den nächsten sieben Jahren verändern werden." Das hat sie erschreckt, und es mag sein, daß sie sich auch deshalb bisher keinem Schema angepaßt hat. Das unauffällige Äußere gehört fast zu Angela Merkels Image. Ungeschminkt und ohne Schmuck, mit kurzgeschnittenen, glatten Haaren, in Strickjacke, Bluse und weitem Rock geht sie in Kabinettssitzungen oder zu Terminen - was sie sehr von vielen emanzipierten Frauenpolitikerinnen im Westen unterscheidet. Doch wer ihre Zurückhaltung, ihr Schweigen, die Pausen, die sie sich zum Nachdenken leistet, als schulmädchenhafte Schüchternheit und Naivität interpretiert, irrt: Angela Merkel ist schlagfertig, ohne polemisch zu werden, sehr selbstbewußt und - vor allem - hartnäckig.
Als Angela Merkel am Wochenende als Nachfolgerin Lothar de Maizières ins Gespräch kam, sparten Unionspolitiker aus allen Flügeln der Partei nicht mit Lob. Generalsekretär Volker Rühe sieht in ihr die Vertreterin "einer neuen Generation von Politikern aus dem Osten, welche die CDU stärkt"; Umweltminister Klaus Töpfer reiht euphorisch ein positives Urteil ans andere; Heiner Geißler betont die Bedeutung einer Frau an der Parteispitze. Angela Merkel nach diesen Hymnen innerhalb der CDU einzuordnen, ist kaum möglich. Und daß ihr politischer Standort in der Partei nicht leicht definierbar ist, daß sie nicht in einem Flügel verankert ist, wird ihr auch vorgeworfen. Sie selbst erklärt das mit ihrer Herkunft aus Ostdeutschland und mit ihrer Absicht, einfach nur Politik machen zu wollen. Sie rechnet sich zu keiner Gruppe, lobt all ihre westlichen Kollegen ausgewogen, wendet sich immer gerade der Gruppierung zu, die sie momentan für ihre Arbeit braucht. "Ich will mir meine Unabhängigkeit erhalten", erklärt sie dieses Verhalten. So hat es sie schon gestört, daß mehr lobende Worte über sie aus dem Reformflügel in der Presse erschienen als aus den übrigen Reihen der CDU. Seltsame Mechanismen nennt sie dies, weil mit gezielten Befragungen ein Bild geformt werde, das wieder nicht ganz stimme.
Jung, politisch begabt, aus dem Osten, die ideale Vorzeigefrau
Ob sich Angela Merkel ihre Unabhängigkeit im Bonner Politzirkus erhalten kann, bleibt dahingestellt. Das Lavieren zwischen den Lagern allerdings befördert, jedenfalls im Augenblick, ihre Karriere. Angela Merkel, jung, politisch begabt, aus dem Osten kommend, unbelastet von der Vergangenheit, unparteiisch innerhalb der Partei, ist, in der momentanen Situation der CDU, die ideale Vorzeigefrau.
Allerdings ringt Angela Merkel auch mit spezifischen Schwierigkeiten der Politiker aus Ostdeutschland, mit Unkenntnis von Wegen und Umwegen der Politik. Die Politiker aus dem Osten, sagt sie, hätten nicht die Chance einer organischen Entwicklung in einer Partei gehabt. Es sei etwas anderes, ob man in der Jungen Union beginne und alle Stationen durchlaufe oder hineingeworfen werde wie sie. "Man wird mit dem gleichen Maß gemessen, das ist auch recht. Aber es besteht die Gefahr, daß man verheizt wird. Denn Politik ist unerbittlich."
In Hamburg wurde Angela Merkel geboren, als kleines Kind kam sie in die märkische Kleinstadt Templin, wo ihr Vater eine Pfarrei übernahm. Das väterliche Pfarrhaus prägte sie und bestimmte ihren Lebensweg. Nach Physikstudium und Promotion arbeitete sie an der Berliner Akademie der Wissenschaften. Zu lehren, zu unterrichten war eigentlich ihr Berufswunsch gewesen, doch der SED-Staat ließ dies wegen ihrer kirchlichen Bindung nicht zu. Während des Umbruchs in der DDR schloß sie sich dem "Demokratischen Aufbruch" von Wolfgang Schnur an. Doch als der Rechtsanwalt wegen seiner Stasi-Vergangenheit zurücktreten mußte, der "Demokratische Aufbruch" zu stagnieren drohte, wechselte sie zur CDU und blieb in der Politik - vielleicht auch eine Alternative zum Lehrberuf. "Ich habe Freude daran, zu erklären, schwierige Themen zu vermitteln."
Bei Lothar de Maizière machte sie den ersten gewaltigen Sprung nach oben, sie wurde, in der Zeit der Vereinigung, stellvertretende Regierungssprecherin. Dem jetzigen Bundesverkehrsminister Günther Krause und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble schaute sie zu, wie diese den Einigungsvertrag aushandelten. "Das habe ich erlebt, das war meine Schule." Krause half ihr auch zur Kandidatur im Wahlkreis Stralsund-Rügen-Grimmen, in dem sie mit 48,5 Prozent gegen zwei Kandidaten aus dem Westen direkt in den Bundestag gewählt wurde. Und nach Rügen zieht es sie mittlerweile mehr als nach Bonn oder Berlin. Ihr Mentor aber ist Lothar de Maizière, und mit großer Verehrung spricht sie von ihm und seinen Verdiensten um die Einheit. Seinen Rücktritt sieht sie nicht als Tiefpunkt der CDU, nicht als Beweis für die Zerrüttung der Partei, sondern als ein persönliches Problem de Maizières. Geprägt von den großen Anstrengungen der Vereinigung, habe er nach dem 3. Oktober 1990 keinen festen Stand in der Politik gefunden. Er habe sich in dieser Zeit verausgabt, was, in Ausnahmesituationen, ja schon manchen geschehen sei.
Sie findet, es sei eine große Gefahr, das Land in Ost und West zu teilen
Angela Merkel selbst war klug genug, ihren festen politischen Stand als Bundesfrauen- und Jugendministerin dort zu suchen, wo sie sich kompetent fühlt: in den neuen Ländern. Sie kennt die Probleme der Menschen, sie kann mit ihnen anders reden als Westpolitiker, sie weiß zu vermitteln und versucht zu helfen, manchmal auch mit unorthodoxen Forderungen: Etwa wenn sie zum Schutz der Industriearbeiterinnen in Thüringen eine Quotierung bei den Entlassungen fordert. Oder wenn sie bei der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit und in Bonn Geld mobilisiert, um Kindertagesstätten wenigstens für zwei Jahre eine Überlebenschance zu geben. Zugleich wehrt sie den Vorwurf ab, den Lothar de Maizière in seiner Rücktrittserklärung erhoben hat: Daß im Westen Unverständnis für die Menschen in den neuen Ländern herrsche. Diese Meinung könne sie nicht teilen, meint sie. Man müsse sich vor Pauschalisierungen hüten, es sei eine große Gefahr, wenn man das Land in Ost und West teile. So plädiert sie auch für eine Durchleuchtung der Bundestagsabgeordneten auf eine mögliche Stasi-Vergangenheit, wie das bei allen Landtagsabgeordneten im Osten geschehe, Offenheit verschaffe mehr Klarheit.
Der Gesetzesvorschlag der Unions-Kommission zur Reform des Paragraphen 218 hat ihr, gerade bei den Frauen, wohl eine ganze Reihe von Minuspunkten eingebracht, trägt er doch eher die Handschrift der Familien- denn der Frauenministerin, die lange die verantwortliche Selbstbestimmung der Frau gefordert hat. "Ich will nicht wegleugnen, daß ich mich in dieser Diskussion bewegt habe", gesteht sie. Doch ohne die Vorarbeit von Rita Süssmuth und Angela Merkel wäre der Entwurf anders ausgefallen, und er müsse ja mehrheitsfähig sein. Diesem Entwurf habe sie zugestimmt, "und ich stehe dazu", aber nur, solange sich nichts in eine bestimmte Richtung ändere. Und sie spielt damit wohl auf die Bestrebungen der Fundamentalisten an.
Den Spagat zwischen den Schwierigkeiten im Osten und der Arbeit in einem für ganz Deutschland zuständigen Ministerium zu schaffen, gelingt Angela Merkel noch nicht immer. Die politische Arbeit ist so schwer durchschaubar wie die politische Haltung der Ministerin festlegbar. Allerdings engen die recht mageren Kompetenzen, mit denen das Amt ausgestattet ist, ihre Möglichkeiten ein. Das Bonner Klima hat Angela Merkel mittlerweile genügend abgehärtet, um Kritik zu ertragen. Frühere Ministerinnen in diesen Ämtern, sagt sie, hätten auch nicht Welten verändert. Sie könne die seit 40 Jahren geforderte Chancengleichheit nicht in sechs Monaten herbeizaubern. Es gehe auch darum, Dinge zu bewegen, die nicht spektakulär seien, "denn Politik ist Dienstleistung". Daß Politik dies nicht allein ist, schon gar nicht in einem Spitzenamt der Partei, das muß Angela Merkel noch lernen.