Gesundheit:"Der Krieg ist der beste Freund der Tuberkulose"

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Eingefärbtes Röntgenbild einer Tuberkuloseinfektion der Lunge. (Foto: IMAGO/IMAGO/YAY Images)

In der Ukraine stemmen sich Hilfsorganisationen gegen ein Ausbreiten der Seuche. Ohne sie könnte die Lage außer Kontrolle geraten.

Von Berit Uhlmann

"Der Krieg ist der beste Freund der Tuberkulose. Das ist leider in der Ukraine nicht anders", sagt Andrij Klepikow, der Ton freundlich, aber nüchtern. Ein Fakt, mit dem er nun einmal umgehen muss. Klepikow leitet die ukrainische Stiftung Alliance for Public Health, die gemeinsam mit Partnern Programme gegen die großen Infektionskrankheiten, allen voran HIV und Tuberkulose (TB), unterstützt.

Die TB ist eine Erkrankung, die im Krieg ganz besonders gedeiht. Zu ihren Risikofaktoren gehören Enge in kaum gelüfteten Räumen, wie sie viele Ukrainer in Luftschutzkellern erleben. Ein schlechter Ernährungszustand, der im Krieg nicht ungewöhnlich ist. Und die Kälte, die in den ukrainischen Wintern in die Wohnungen zieht, wenn wieder der Strom ausfällt, weil Infrastruktur zerbombt wurde.

Damit steigt das Risiko für Infektionen, während das Chaos des Krieges gleichzeitig die Diagnostik und die Monate umfassenden medikamentösen Behandlungen erschwert. "Patienten erleben durch den Krieg unmittelbarere Lebensbedrohungen als durch die Tuberkulose. Sie vergessen dann die Einnahme ihrer Medikamente", sagt Klepikow.

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Viele verlieren auch den Kontakt zu den Behandlungseinrichtungen. Weil sie zu jenen 3,5 Millionen Menschen gehören, die ihr Zuhause verlassen mussten und im eigenen Land auf der Flucht sind. Oder weil ihr Behandlungszentrum zu den 1500 medizinischen Einrichtungen gehört, die bei den russischen Angriffen beschädigt oder ganz zerstört wurden. Oder weil Personal und Ausrüstung fehlen. Die Liste, wie der Krieg die TB-Programme stört, ist lang. Verspätete Diagnosen und unzureichende Therapien können wiederum die Infektionsgefahr erhöhen.

Wie also entwickelt sich die Lage? Die Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für 2022, dem Jahr als der Krieg begann, lassen vermuten, dass sich die Krankheit aktuell stärker verbreitet. Pro 100 000 Einwohner sind laut Statistik 90 neue Fälle aufgetreten. 2020 waren es noch 73 pro 100 000 Einwohner. Auch das war schon viel. In der WHO-Europaregion kommen auf 100 000 Einwohner nur 25 Fälle. Etwa 18 000 Ukrainer bekamen 2022 eine TB-Diagnose. Noch einmal so viele dürften die Bakterien unerkannt mit sich herumschleppen, schätzt die WHO.

"Wir leisten Widerstand."

Askar Yedilbayev, der bei der WHO Europa für die Erkrankung zuständig ist, mahnt, die Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren. In den Statistiken der meisten Mitgliedsländer sind die Nachwehen der Corona-Pandemie zu spüren. Damals waren TB-Programme unterbrochen, zum Teil dürften weniger Fälle erfasst, vielleicht wegen der eingeschränkten Mobilität auch weniger aufgetreten sein. Damit erleben nun viele Staaten einen Anstieg der Fallzahlen.

Dennoch, so der WHO-Experte: "Es ist wahrscheinlich, dass die Zunahme der Tuberkulose-Inzidenz in der Ukraine zum Teil auf die Auswirkungen Krieges zurückzuführen ist." Seine Einschätzung: Der Krieg bedrohe den Fortschritt gegen die TB, den sich das Land zuvor hart erarbeitet hat.

Die Einschätzung von Andrij Klepikow lautet - und auch sie klingt freundlich und nüchtern: "Es ist mit der Tuberkulose wie mit dem Krieg. Die Situation ist besorgniserregend, aber wir leisten Widerstand." Eine Alternative gebe es schlicht nicht.

Für die Stiftung bedeutete dies, ihre Strategien anzupassen. "Wir mussten mobil werden", sagt Klepikow. Hilfsorganisationen fahren jetzt mit umgebauten Lieferwägen zu Notunterkünften, um Infizierte zu finden und Behandlungen sicherzustellen. Sie arbeiten stärker mit Sozialeinrichtungen zusammen, denn dorthin kommen die Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, oft als Erstes. Und Hilfsorganisationen leisten mittlerweile zusätzlich humanitäre Hilfe.

Sie verteilen Essen, Hygieneartikel, Decken, Taschenlampen, Powerbanks und richten Notunterkünfte ein. Längst werden sie auch über Grenzen hinweg aktiv und unterstützen TB-Patienten, die ins Ausland geflohen sind. Auch mit einigen Patienten, die nach Deutschland kamen, sind sie in Verbindung geblieben, sagt Klepikow. Die Allianz half, medizinische Dokumente zu übersetzen und Kontakte zwischen Ärzten beider Länder herzustellen.

Und doch sind große Lücken spürbar. Notunterkünfte können aus Kapazitätsgründen oft nur für wenige Wochen ein Bett anbieten, heißt es in einer Publikation der Allianz. Mobile Kliniken können nicht alle erreichen. In sieben Monaten war nur ein einziges Mal ein Arzt da, klagte ein Dorfbewohner aus der Charkiw-Region in der Veröffentlichung. "Medikamente sind das große Problem. Die Menschen können sich nirgendwo hinwenden."

In Deutschland wurden weniger Fälle gesehen als befürchtet

Dabei arbeiten sie schon so viel mehr als je zuvor, so Klepikow. Wie hält man das aus? "Schwer", antwortet der Ukrainer: "Ich glaube, jeder von uns kommt einmal an den Punkt, wo er selbst mentale Unterstützung braucht." Klepikow wählt seine Worte vorsichtig. Er weiß, dass er weiter um Hilfe aus dem Ausland werben muss. Aber auch, dass die Vorstellung, die Ukrainer schleppen in großem Stil die TB in den Rest des Kontinents ein, nicht hilfreich ist.

Tatsächlich aber scheint sich diese Befürchtung zumindest in Deutschland nicht zu bestätigen. Nach einer Studie im Fachblatt Eurosurveillance wurden 2022 deutschlandweit etwa 4000 TB-Fälle registriert. 262 der Betroffenen kamen aus der Ukraine. Das ist weniger, als man erwartet hatte; anfängliche Schätzungen waren von 450 neuen Fällen für das Jahr ausgegangen, schreiben die Autoren vom Robert-Koch-Institut (RKI). Möglich sei, dass einige Fälle übersehen wurden, heißt es in dem Artikel. Vielleicht aber seien die, die sich auf die Flucht machen, auch überdurchschnittlich gesund.

Den jüngsten Daten des RKI zufolge stiegen die neuen TB-Fälle in Deutschland von etwa 3900 im Jahr 2021 auf knapp 4500 im vergangenen Jahr. Die Inzidenz stieg zuletzt leicht auf 5,3 pro 100 000 Einwohner. Dieser Anstieg könnte zum Teil durch Effekte der Pandemie erklärt werden, hieß es.

Alles in allem also erscheint die Lage derzeit nicht allzu dramatisch. Diesen Eindruck teilt auch Dumitru Laticevschi, Regionalmanager für Osteuropa beim Globalen Fonds zum Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria. Er sei er momentan zuversichtlich, dass die Situation aktuell unter Kontrolle ist. Zum kompletten Bild gehört aber nach Laticevschis Worten auch: Ohne das Durchhaltevermögen von Menschen wie Andrij Klepikow wäre die Tuberkulose "eine tickende Zeitbombe".

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