Kommerz und Gesundheit:Das Repertoire der Neinsager

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(Foto: Fotos: imago, Collage: SZ)

Die Wirtschaft wird bluten, immer mehr Verbote drohen und Evidenz gibt es gar nicht: Mit immer gleichen Einwänden lehnt die Industrie staatliche Eingriffe zum Schutz der Gesundheit ab. Was davon stimmt?

Von Berit Uhlmann

Wenn über die Regulierung ungesunder Produkte diskutiert wird, werden oft Einwände vorgebracht, die aus dem Standard-Repertoire der Industrie stammen. Die verbreitetsten Statements - und was von ihnen zu halten ist.

"Was der Bürger konsumiert, geht den Staat nichts an"

Zunächst klingt es einleuchtend: Wofür der Bürger sein hart erarbeitetes Geld ausgibt, ist seine eigene Angelegenheit. Nur wird dabei übersehen: Was der Einzelne konsumiert, "ist bereits zu einem großen Teil die Angelegenheit von anderen", wie Nason Maani, Public-Health-Forscher der Universität Edinburgh sagt. Denn die Möglichkeiten, aus denen der Bürger wählt - die Produkte, deren Preise und Verfügbarkeit sowie die sozialen Normen, die deren Konsum beeinflussen - haben kommerzielle Unternehmen geprägt.

"Wenn man sagt, 'was der Bürger konsumiert, geht den Staat nichts an', dann ist das nicht einfach ein Argument für die individuelle Freiheit", sagt Maani. "Man sagt vielmehr, der Staat sollte sich zurücklehnen und andere mächtige Akteure die Wahlmöglichkeiten der Bürger gestalten lassen. Und zwar nicht in einer Weise, die zwangsläufig den Bürgern zugute kommt, sondern in einer Art, die diesen mächtigen Akteuren nutzt. Meiner Meinung nach ist das weder ein Argument für die individuelle Freiheit noch für den Bürger oder das öffentliche Wohl."

Hinzu kommt: Der Staat kommt für einen Teil der gesundheitlichen Folgen des Konsums auf. Diese Kosten gering zu halten, ist demnach auch wirtschaftlich geboten. Maani weist zudem darauf hin, dass auch Hersteller schädlicher Produkte staatliche Subventionen erhalten. Die weltweiten Subventionen für fossile Brennstoffe beispielsweise beliefen sich 2020 auf 5,9 Billionen US-Dollar. Auch hier gilt, sagt Maani: "Was diese Unternehmen produzieren und was konsumiert wird, geht den Staat etwas an, denn es wird vom Steuerzahler bezahlt."

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"Man will den Bürgern immer mehr verbieten"

Immer wieder ist von Verbotspolitik die Rede, tatsächlich geht es aber fast nie darum, etwas zu untersagen. Die Empfehlungen von Institutionen wie der WHO und von verschiedenen Wissenschaftler-Netzwerken zielen auf die Reduzierung, nicht auf die Eliminierung bestimmter Waren oder Inhaltsstoffe ab.

So gibt es in dem Maßnahmenkatalog, den die WHO zur Bekämpfung von Zivilisationskrankheiten vorgelegt hat, nur ein einziges Produkt, das verschwinden soll: industrielle Transfette, die in Fertiglebensmitteln enthalten sind und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen stärker als andere Fette erhöhen. In Deutschland steht dagegen nicht einmal dies zur Debatte. Dabei würde dem Konsumenten mit diesem Verbot lediglich etwas genommen, von dem er gar nicht weiß, worin es enthalten ist: Transfette müssen in Deutschland nicht deklariert werden. Es ist unwahrscheinlich, dass Konsumenten sie vermissen würden. Verbote gibt es zudem für das Rauchen an einigen Orten und die Bewerbung einiger Produkte. Doch auch hier ist fraglich, ob den Menschen diese Werbung ernsthaft fehlt.

"Politische Regulierungen schaden der Wirtschaft massiv"

Es ist möglich, dass ein sinkender Konsum ungesunder Produkte zu Verlusten bei deren Herstellern und Zulieferern führen. Doch geben Kunden das für diese Produkte eingesparte Geld nicht für andere Dinge aus? Das schreibt Martin McKee, Professor of European Public Health an der London School of Hygiene and Tropical Medicine im Buch "Commercial Determinants of Health". Stammten die Alternativprodukte aus einheimischer Produktion, könnte die Gesamtwirtschaft sogar gewinnen, argumentiert McKee am Beispiel von Zigaretten, die vielerorts importiert werden und für Händler noch dazu oft nur kleine Gewinnspannen bieten.

Ein gut untersuchtes Beispiel dafür, dass staatliche Eingriffe wirtschaftlich keine großen Kreise ziehen, ist das Rauchverbot in Gaststätten. Zwei umfassende Überblicksartikel zeigten, dass Wirte keine nennenswerten ökonomischen Nachteile erlitten.

Hinter dem Argument stehe ein von der Industrie gepflegtes Narrativ, dass sich Gesundheit und Wirtschaft in einem Zielkonflikt befänden, dass Politiker sich also zwischen beiden entscheiden müssten, schreibt McKee. Tatsächlich ist vielfach gezeigt wurden, dass Gesundheit ein wichtiger Faktor für ökonomisches Wachstum ist. So ergab ein Überblicksartikel aus dem vergangenen Jahr, dass ein Ansteigen der durchschnittlichen Lebenserwartung um ein Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 2,4 Prozent einhergeht.

"Man muss die Industrie mit einbeziehen"

Die Konzerne nicht regulieren, sondern ihnen die Hand reichen? Ihnen Vertrauen schenken, dass sie verantwortungsbewusst sind und besonders schädliche Auswirkungen ihrer Produkte verhindern? Regierungen haben dies oft versucht und tun es noch immer. Nur sprechen die Resultate nicht dafür, dass diese Strategie aussichtsreich ist.

Um nur einzelne Beispiele zu nennen: Der in Deutschland auf freiwilliger Basis eingeführte Nutriscore ist laut Verbraucherzentralen nur auf etwa 40 Prozent der von ihnen untersuchten Lebensmittel ausgewiesen. Die Süßgetränke-Industrie hat sich hierzulande verpflichtet, bis 2025 den Zuckergehalt ihrer Produkte um ohnehin magere 15 Prozent zu reduzieren. Bisher ist er aber nur um etwa zwei Prozent zurückgegangen.

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Auch dem aktuell diskutierten Verbot von Werbung für ungesunde Kinderlebensmittel ist eine lange Phase der Freiwilligkeit vorausgegangen. 2007 hatten sich Europas größte Lebensmittelkonzerne verpflichtet, stark zucker-, fett- und kalorienhaltige Lebensmittel nicht in Spots für Kinder zu bewerben. Eine Analyse der Verbraucherorganisation Foodwatch zeigte aber, dass 2021 immer noch 86 Prozent der untersuchten beworbenen Kinderlebensmittel zu viel Zucker, Fett und Kalorien enthielten, wenn man den Gehalt an Empfehlungen der WHO bemisst.

Letztlich führten Selbstverpflichtungen der Industrie in ein klassisches Gefangenendilemma, sagte Stefan Lhachimi, Professor für Public Health an der Hochschule Neubrandenburg vor kurzem der SZ. Selbst wenn das einzelne Unternehmen tatsächlich willens sei, Produkte oder Marketing zu ändern, könne allein die Vermutung, dass andere Unternehmen dies nicht tun, den Plan vereiteln.

"Es gibt keine ausreichende Evidenz"

Bevölkerungsweite Maßnahmen lassen sich oft nicht nach dem Goldstandard der medizinischen Forschung überprüfen lassen - das stimmt. Studien, bei denen Individuen oder Gruppen randomisiert, also nach dem Zufallsprinzip entweder die Maßnahme oder eine Alternative erhalten, sind oft weder politisch noch praktisch umsetzbar. "Man denke an eine randomisierte Einführung einer Steuer auf zuckerhaltige Getränke. Die Bundesländer würden wohl kaum zustimmen, dass acht Länder diese Steuer umsetzen, die anderen acht hingegen nicht - oder erst ein Jahr später", sagt Eva Rehfuess, die den Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München leitet.

Allerdings gebe es inzwischen epidemiologische Studiendesigns und statistische Ansätze, die nahezu ebenso belastbare kausale Erkenntnisse liefern, sagt Rehfuess. Dazu gehöre beispielsweise die Familie der sogenannten "Natürliche Experimente-Studien", in denen Forscher nicht selbst ein Experiment initiieren, aber Entwicklungen, die ohne ihr Zutun entstehen, auswerten. Dies gilt auch für Maßnahmen, die Regierungen ergreifen. So hatte sich etwa die schottische Regierung entschlossen, einen Mindestpreis auf Alkohol einzuführen, um den Konsum von Billigalkohol einzuschränken. Forscher haben seither die gesundheitlichen Folgen beobachtet - und ihre Ergebnisse vor wenigen Tagen veröffentlicht. Demnach ging die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle seit der Einführung um 13 Prozent zurück.

Gerade für aktuell in Deutschland diskutierte Maßnahmen, die Zuckersteuer, Lebensmittelampeln oder ein Werbeverbot für ungesunde Kinder-Lebensmittel, gebe es bereits sehr solide Evidenz aus verschiedenen Ländern, sagt Eva Rehfuess: "Ich würde sagen: Umsetzen, begleitend evaluieren und nach fünf Jahren prüfen, ob und wie nachjustiert werden muss." Sie verweist auf den britischen Epidemiologen und Statistiker Austin Bradford Hill, der als Pionier der randomisierten klinischen Studien gilt und doch sagte: "Jede wissenschaftliche Arbeit ist unvollständig - egal ob es sich um Beobachtungen oder Experimente handelt. Jede wissenschaftliche Arbeit kann durch den Fortschritt des Wissens erschüttert oder verändert werden. Das gibt uns nicht die Freiheit, das Wissen, das wir bereits haben, zu ignorieren oder die Maßnahmen aufzuschieben, die zum jeweiligen Zeitpunkt erforderlich scheinen."

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