Geisteswissenschaften:Ein Doktortitel fürs Wiederkäuen

Studenten an der Universität

Für den Hut, den es auch an deutschen Universitäten wieder gibt, kann man sich heute meist wenig kaufen, wissenschaftlich wie karrieremäßig.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

In Deutschland werden mehr Doktorarbeiten denn je geschrieben - aber sie interessieren kaum noch. Das Beispiel der Philosophie zeigt, warum die Promotion in der Krise ist.

Von Maximilian Sippenauer

Nachdem Goethes Dissertation abgelehnt wurde, machte ihm der Dekan einen Vorschlag zur Güte: Er möge doch über ein paar Thesen disputieren, was Goethe - wie er in "Dichtung und Wahrheit" schreibt - mit "großer Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit" tat. Doch so sehr es Goethe amüsierte, dass ihm ein wissenschaftlich redundanter Beitrag von zwölf Seiten den Doktortitel einbrachte, so wuchs darüber auch seine tiefe Skepsis gegenüber einer institutionalisierten Wissenschaft.

Die Stellung der Promotion, des akademischen Gesellenstücks, war schon immer ein guter Seismograf für den Zustand des forschenden Denkens. Nach Goethes Zeiten wurde sie professioneller und anspruchsvoller; doch heute muss man vor allem für die Geisteswissenschaften sagen: Die Promotion steckt in der Krise.

Spätestens seit den Universitätsreformen im Zuge des Bologna-Prozesses, der eine europäische Vereinheitlichung bringen sollte, übernimmt die Promotion eine undankbare Scharnierrolle zwischen einer Post-Bologna-Realität im Studienalltag - der in diesen Tagen überall wieder beginnt - und dem Humboldt'schen Ideal von Wissenschaft. Ein bis ins Detail ausdefiniertes Studium, das schnell fit machen soll für den Arbeitsmarkt, trifft auf eine extrem uneinheitlich organisierte Universitätswelt. Bei der Promotion müssen diese inkompatiblen Vorstellungen von Wissen und Wissenschaft irgendwie zusammenfinden; mit gravierenden Folgen nicht nur für die Promovierenden, sondern auch für die Produktion von Wissenschaft.

Die Zahl der Promovierenden ist heute so hoch wie noch nie. Im Wintersemester 2014/15 arbeiteten in den Geisteswissenschaften knapp 35 000 Menschen in Deutschland an einer Doktorarbeit. Während aber immer mehr Doktoranden und Studierende hinzukamen, stagnierte die Zahl fester Universitätsstellen. Also gibt es viel, viel mehr Promovenden als Posten. Trotz dieser kurzsichtigen Stellenpolitik setzt die Politik unverdrossen Promotionsanreize, schreibt neue Stipendien aus, subventioniert Sonderforschungsbereiche.

"Man produziert einfach Menschenmaterial"

Was dies bedeutet, wird am Beispiel der Philosophie besonders deutlich. "Man betreibt in einem Großprojekt wie einem Exzellenz-Cluster meistens den Unsinn, dass man vierzig Doktoranden für drei Jahre beschäftigt, in denen sie irgendetwas schreiben müssen", kritisiert Markus Gabriel, Professor für Philosophie an der Universität Bonn. "Sehr wahrscheinlich aber schafft es davon kein einziger zur Professur. Man produziert einfach Menschenmaterial, um die deutsche Philosophie dann im Ausland feilzubieten."

Gabriel plädiert stattdessen für mehr fixe Professuren, etwa wie in Frankreich. Diesen solle aber ein kleineres Kontingent an Promovierenden zugeordnet werden. Statt zwanzig hätte ein Professor etwa vier vollfinanzierte Doktoranden zu betreuen. Diese könnten sich voll auf ihre Dissertationen konzentrieren und hätten realistischere Aussichten auf eine Anstellung.

Die Dissertation selbst zählt kaum

Es geht aber nicht nur um faire Berufsverhältnisse. Das eigentliche Dilemma, das aus dem prekären Ungleichgewicht zwischen Stellen- und Anwärterzahlen resultiert, ist, dass der enorme Konkurrenzdruck unter den Promovierenden zu einer fast schon wissenschaftsschädlichen Arbeitsweise führt. Wer heute eine akademische Karriere anstrebt, für den ist "genau das zu tun, worin sein tiefstes philosophisches Interesse liegt", wie Gabriel die Funktion der Promotion beschreibt, meist der falsche Weg. Statt sich auf die Dissertation zu konzentrieren, verbringen Doktoranden heute schon ihre Zeit auf Konferenzen und versuchen, sich frühzeitig in Zeitschriften zu profilieren.

Dies bedauert auch der Philosophie-Doktorand Guido Barbi, der in München und Berkeley studiert hat und nun an einer Dissertation über das Thema Technokratie arbeitet. "Für eine Uni-Karriere ist es entscheidend, in den bestmöglich platzierten internationalen Zeitschriften zu publizieren. Das Endprodukt Dissertation wird wenig gelesen und zählt als Einstellungskriterium kaum. Wichtiger sind quantitative Kriterien: Wie viele Artikel hat man geschrieben, wo sind sie erschienen, wie oft wurden sie zitiert?" Während der Promotion werde man, so Barbi, schrittweise vom kreativ denkenden Jungakademiker zu einer Publikationsmaschine umtrainiert.

Doch hat sich die Doktorarbeit als Monografie, an der über Jahre gedrechselt wird, nicht überholt? Sind kumulative Promotionen, in denen man eine Reihe von Aufsätzen anfertigt, nicht zeitgemäßer? Und ist es nicht sinnvoll, als Jungakademiker in Essays an aktuellen Debatten zu partizipieren? Auch Lukas Köhler, bis vor Kurzem Post-Doc an der Hochschule für Philosophie München und nun Mitglied des Bundestages für die FDP, sieht die Bedeutung schnellerer Debatten. Nur sähe das in Realität anders aus: "Wissenschaftlich gesehen ist das Veröffentlichen von Aufsätzen kontraproduktiv. Denn die Art und Weise, wie Paper heute zu schreiben sind, erlaubt kaum Neues. Im Prinzip werden in diesen Texten nur alte Gedanken reproduziert."

Ein Grund dafür ist die Gatekeeper-Position der wissenschaftlichen Zeitschriften. In dem ausdifferenzierten und nie ganz zu überblickenden Bereich der Philosophie soll Qualität mittels Peer-Review garantiert werden. Hierzu prüfen zwei oder drei Peer-Leader, renommierte Professoren des Fachs, ob das komplett anonymisierte Paper zu einer Publikation taugt.

Klingt erst einmal seriös. Doch das Vorgehen hat einen Haken. Es treibt die Diskurse nicht voran, sondern in die Breite. "Wenn die harte Währung für eine Unikarriere die Veröffentlichungen sowie gute Netzwerke sind, dann investiert man dafür die meiste Zeit. Und zwar effizienterweise, indem man sich dem Jargon anpasst", meint Köhler. "Das heißt, man schreibt wie alle anderen und über dieselben Themen; und man rezipiert natürlich die Topautoren, die die Peer-Review durchführen."

Gedruckt wird nur, was Schlüsselbegriffe enthält

Diese Mechanismen machten eine unkonventionelle Arbeit schlichtweg riskanter. Doktorand Barbi sagt: "Oft werden unorthodoxe Gedanken zunächst nicht als suspekt betrachtet. Wenn sie jedoch erfordern, sich vom gängigen Jargon abzusetzen, wird der Gedanke als formal unzulänglich angesehen und die Publikation verwehrt." Es gibt also sprachliche Zusammenhänge aus Schlüsselbegriffen, Schlüsselzitaten und Schlüsselquellen, die bedient werden müssen, damit ein Essay problemlos in den Journals erscheint und durch die Algorithmen der Suchmaschinen bestmöglich erfasst wird. Diese bestimmen die Rankings auf Webseiten wie Academia.edu. Wer dort oben steht, wird häufiger zitiert, gilt damit als relevanter und hat bessere Karrierechancen. Hegt man ein philosophisches Erkenntnisinteresse, ist das natürlich völliger Unsinn.

Die Konsequenzen für die philosophische Praxis sind fatal. "Peer-Review in der Philosophie ist die Vortäuschung von Qualitätskontrolle", so Gabriel. "Kein einziger großer Philosoph wäre je mit einem seiner relevanten Texte in ein solches Journal gekommen. Immanuel Kant hätte unter heutigen Bedingungen nicht publizieren können. Seine ,Kritik der reinen Vernunft' wäre nie bei Oxford University Press erschienen, ,Was ist Aufklärung?' vielleicht noch in der Süddeutschen."

Zugrunde liegt dem Journalsystem ein wesentliches Missverständnis. "Die Philosophie, wie vor 2500 Jahren im Westen und Osten konzipiert, ist fundamental inkompatibel mit einem ideologischen Verständnis von Wissenschaft. Aber in der Logik gibt es keine Entdeckungen wie die neuer Proteinvariationen in der Biologie." Dieser quasiwissenschaftliche Ansatz beeinträchtige auch die Sprache. "Heute wird in Deutschland so getan, als werde in dem anonymen, stillosen Stil der Peer-Review-Journals von Tatsachen berichtet. Dabei wird in den USA, entgegen den Vorurteilen, auch sprachlich experimentiert."

Überhaupt sind schnelle Journaldebatten kein Allheilmittel. "Will man sich etwas ausdenken, was eine Wirkungskraft wie etwa Saul A. Kripkes ,Name und Notwendigkeit' hat, dann braucht man Zeit. Bis Kripke dieses Buch schreiben konnte, hat er zehn Jahre nur über Semantik nachgedacht." Die Doktorarbeit ist als so ein Raum konzipiert: Hier folgt man über zwei oder drei Jahre, abseits von Hektik und Karrieresorgen, seinem genuinen Interesse.

De facto aber fließt ein Großteil dieser Energie, so sind sich Professor, Post-Doc und Doktorand einig, in wissenschaftlich redundante Vorträge und Aufsätze, allenfalls als rhetorische Fingerübungen entschuldbar, tatsächlich jedoch selten mehr als ein strategisches Aufmerksamkeitsheischen. Dies bläht die Diskurse immer weiter auf. Ein Teufelskreis, der bei der Promotion nicht endet. "Eine Universitätskarriere bei uns heißt, sich dem Diskurs und seinen Freiheit und Kreativität einschränkenden Mechanismen bis zur entfristeten Stelle zu fügen", erklärt Gabriel. "Und diese wenigen, fixen Posten kommen sehr spät. Etwa in einem Alter um die vierzig." Bis dahin würden etliche Arbeiten aus Karriereerwägungen produziert.

Die deutsche Philosophie zeichnete immer ein besonderes Verhältnis von Sprache und Denken aus. Sie war damit zugleich jargonkritisch und jargonanfällig. Wenn aufgrund struktureller Bedingungen Promovieren heute bedeutet, sich einem quasiwissenschaftlichen Jargon anbiedern zu müssen, ist die Gefahr groß, dass das kritische Gegengewicht im Denken bereits in seinen Anfängen verkümmert. Eine Gefahr, vor der schon Denker wie Weber, Heidegger oder Adorno warnten. "Was Heidegger als das Gestell bezeichnet hat, ist ja die Horrorvision einer Groko des Denkens, die überall einzieht", so Gabriel. "Der philosophische Betrieb heute ist Heideggers Albtraum."

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