Eine alte Frau in einem Münchner Krankenhaus bekam zur Mittagszeit immer ein Tablett neben das Bett gestellt. Eine Stunde später holte eine Pflegerin es wieder ab - unberührt. Die Patientin konnte das Essen riechen, erreichen konnte sie es nicht. Um selbst zu essen war sie zu schwach. Sie hätte gefüttert werden müssen, aber das kostet Zeit. Und Zeit ist das Letzte, was Krankenschwestern haben.
Es ist eine von vielen grausigen Geschichten von Peter Friemelt. Er ist Patientenberater in München und hat für das, was in Bayerns Krankenhäusern täglich passiert, nur ein Wort: "Dramatisch." Am Freitag aber bringt er nicht nur verstörende Geschichten mit, sondern auch Hoffnung. Es könnte sich etwas ändern in Bayerns Krankenhäusern, wenn die Bayern es nur wollen. So wie es aussieht, wollen sie. Mit Leichtigkeit hat das Volksbegehren gegen den Pflegenotstand in Bayern die nächste Hürde genommen. 25 000 Unterschriften waren nötig, in nur zwei Monaten kamen mehr als 100 000 zusammen. Am Freitag karrten die Initiatoren sie in Kisten vor das Innenministerium und reichten sie offiziell ein. Es sind mehr als beim bis jetzt erfolgreichsten Volksbegehren zur Rettung der Bienen, für das in dieser Phase fast 95 000 Menschen unterschrieben hatten.
Gesundheit:München sucht in der ganzen Welt nach Pflegekräften
Den Kliniken fehlt Personal, gerade in der Kindermedizin. Um den Mangel zu beheben, setzen sie kurzfristig auf Anwerbungen im Ausland.
Die Bayern sind im Volksbegehren-Fieber. Nach den Bienen retten sie jetzt die Pflege. So stellt sich das zumindest das breite Bündnis der Unterstützer vor. Es reicht von Parteien (Linke, SPD, Grüne) über Gewerkschaften bis zu Verbänden von Ärzten und Pflegern. Angestoßen hat es die Linke, die im Sommer kaum ihren Augen traute. "Es kommt nicht so oft vor, dass die Stände der Linken in Bayern eingerannt werden", sagt Landessprecher Ates Gürpinar. Diesmal aber standen die Menschen Schlange. Unüberschaubare Menschenmassen waren es zwar nicht, Gürpinar muss trotzdem an die Revolution um Kurt Eisner denken und spricht von einer "sozialen Bewegung", wie es sie in Bayern schon lange nicht mehr gegeben habe.
Wie ein mitreißendes Manifest liest sich der Text des Volksbegehrens nicht, schließlich handelt es sich um einen Gesetzestext, genauer, um ein neues Krankenhausgesetz. Es soll den Pflegenotstand in Bayern stoppen. Derzeit fehlen im Freistaat laut Initiatoren 12 000 Pflegestellen. Lange konnten Krankenhäuser völlig frei entscheiden, wie viele Pflegekräfte sie einstellen. Oft entschieden sie sich für weniger und nicht mehr, auch, weil Krankenhäuser Profite machen müssen. "Pflege wird nur als Kostenfaktor gesehen", sagt Sabine Karg vom deutschen Berufsverband für Pflegeberufe.
Mit Pflege aber lässt sich vordergründig kein Geld verdienen. Die Krankenhäuser rechnen nach Fallpauschalen ab. Viele Knie-Operationen bringen Geld, viele Pflegekräfte nicht. Auch die Untergrenzen, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gerade für wenige pflegeintensive Bereiche eingeführt hat, seien nur eine "Mogelpackung", sagt Robert Hinke von Verdi. Faktisch würden damit nur die katastrophalen Zustände staatlich legitimiert.
Kleinigkeiten verlängern Leben
Der Gesetzentwurf des Volksbegehrens sieht dagegen eine andere Regelung vor. Alle Krankenhäuser sollen gesetzlich dazu verpflichtet werden, ihren Personalbedarf an Pflegern zu ermitteln und Rechenschaft darüber ablegen, ob die Vorgaben eingehalten werden. Wie viele Pflegekräfte eingestellt werden, hinge damit nicht in erster Linie von ihren Kosten ab, sondern vom wirklichen Bedarf. Um die Hygiene zu verbessern, sollen in Krankenhäusern laut Gesetzentwurf zudem die Hygienevorschriften des Robert-Koch-Instituts gelten.
Nur: Woher all die neuen Pflegekräfte nehmen? Und wie sollen die Krankenhäuser das bezahlen? Jede zusätzliche Pflegestelle werde laut dem neuen Pflegepersonalstärkungsgesetz im Bund voll refinanziert, argumentieren die Initiatoren. Für die Krankenhäuser entstünden also keine zusätzlichen Kosten. Und es gebe ja viele Pflegekräfte, nur arbeite die Hälfte von ihnen in Teilzeit, sagt Hinke von Verdi. Verbessern sich die Arbeitsbedingungen, könnten sich viele vorstellen, wieder Vollzeit zu arbeiten. So wie Debora Pihan. Die 34-Jährige arbeitet in einem Erlanger Krankenhaus, und auch sie hat grausige Geschichten zu erzählen. Eine Pflegekraft und 30 Patienten, so sehe das in der Nachtschicht aus: "Kommt da ein Notfall rein, ist es der GAU". Einen Patienten, der lange liegt, öfter mal umdrehen, die Gelenke bewegen, das sind Kleinigkeiten, die Leben verlängern. Sie würden nicht gemacht: "Keine Zeit." Liegt ein Patient im Sterben, stirbt er allein. "Unwürdig", nennt das Pihan. Mit besseren Arbeitsbedingungen aber würde auch sie wieder Vollzeit arbeiten.
Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) lehnt das Volksbegehren ab. Schließlich habe der Bund doch gerade ein gutes Pflegegesetz verabschiedet. Ob die Bayern tatsächlich selbst Politik machen können, hängt an juristischen Fragen. Das Innenministerium muss innerhalb von sechs Wochen entscheiden, ob es das Volksbegehren zulässt. Kritiker führen an, dass Pflege kein Landes-, sondern ein Bundesthema sei und verweisen darauf, dass im Volksbegehren unzulässigerweise mit Pflege und Hygiene mehr als ein Thema behandelt werde. Im Fall einer Ablehnung wollen die Initiatoren klagen.