Literaturgeschichte:"Sie war unangepasst, aufmüpfig, originell und sehr scharfsinnig"

Lesezeit: 3 min

An diesem Mittwoch wäre die 2016 gestorbene Schriftstellerin Ruth Rehmann 100 Jahre alt geworden. Hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1995. (Foto: Brigitte Friedrich)

Ruth Rehmann würde heute ihren 100. Geburtstag feiern. Die Schriftstellerin erörterte die Probleme der Globalisierung ebenso wie das Landleben im Chiemgau - und manchmal erntete sie dafür Morddrohungen.

Von Hans Kratzer, Trostberg

So beklemmend sie auch wirken mag, die Geschichte mit der Morddrohung gegen Ruth Rehmann (1922-2016) ist längst in Vergessenheit geraten. Sie ist es trotzdem wert, zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin an diesem Mittwoch in Erinnerung gerufen zu werden. Im Jahr 1964, mitten in der Zeit des Vietnamkriegs, hatte Ruth Rehmann für die SZ eine Reportage über das Altenmarkter Veteranenfest geschrieben. Danach brach ein Sturm los. Man müsse sie ins Haberfeld treiben, notzüchtigen, ertränken. Haufenweise flatterten anonyme Drohungen in ihre Wohnung in Trostberg. Einer schrieb: "Die große Reinigung von solchen Pestauswüchsen wird nicht mehr lange auf sich warten lassen."

Dabei war der SZ-Artikel über dieses gewaltige Spektakel in einem ironischen Ton verfasst gewesen. Rehmann schilderte Männer mit Traditions- und Bierfahnen, den Pfarrer, der einen kühnen Bogen zwischen dem Soldaten im Schützengraben und dem Soldaten des Reiches Gottes schlug und nicht zuletzt jenen oben im Baum hockenden Mann, der den in der Ferne postierten, Bier trinkenden Kanonenschützen mit weißer Fahne den Einsatz signalisierte. "Ich war allergisch gegen diese Verbindung von Kirche und Kriegsheldenverehrung", sagte Rehmann damals zu dem Autor Rüdiger Dilloo. Und sie erzählte ihm, wie sie in ihrer Bedrängnis die bayerische Instanz Carl Amery um Rat und Hilfe bat: "Was soll ich machen, zur Polizei gehen?" "Des bringt nix", sagte Amery. "Entweder du schreibst a Gschicht im Spiegel und wanderst ausm Chiemgau aus. Oder du hoitst dei Mei."

Newsletter abonnieren
:Mei Bayern-Newsletter

Alles Wichtige zur Landespolitik und Geschichten aus dem Freistaat - direkt in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.

Ruth Rehmann ist geblieben und hat trotzdem das Maul nicht gehalten. Alles andere hätte auch ihrem Charakter widersprochen. "Sie war unangepasst, aufmüpfig, originell und sehr scharfsinnig", sagte der Verleger Michael Krüger einmal über sie, und das war kein bisschen übertrieben. Dass sie als "die Unbekannteste unter den bekannten Schriftstellern der Bundesrepublik" gilt, ist wiederum schade, denn sie brauchte sich mit ihrem Werk wahrlich nicht zu verstecken, vor niemandem. Ruth Rehmann war in jeder Hinsicht eine bemerkenswerte Person.

Das zeigte schon ihr denkwürdiger Auftritt bei der Autorenvereinigung "Gruppe 47" im Jahr 1958. Ruth Rehmann wurde damals eingeladen, was in der Nachkriegszeit nur wenigen Frauen widerfuhr. Sie trug aus ihrem Roman "Illusionen" vor, der von vier Büroangestellten und deren Fluchten aus der betrüblichen Wirklichkeit handelt. Ihre Lesung kam so gut an, dass ihr sogar der Preis der Gruppe 47 winkte. Letztlich landete sie knapp hinter Günter Grass, der mit einem Auszug aus dem entstehenden Roman "Die Blechtrommel" noch mehr Aufsehen erregte. Der Aviva Verlag hat Rehmanns "Illusionen" anlässlich ihres 100. Geburtstags aktuell neu aufgelegt.

Alsbald flackerte ihre frappierende Vielseitigkeit auf

Ruth Rehmann wurde am 1. Juni 1922 als Tochter eines evangelischen Pastors in Siegburg geboren. Nach dem Abitur flackerte alsbald ihre frappierende Vielseitigkeit auf. Sie besuchte eine Dolmetscherschule, studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik und schließlich Musik mit dem Hauptfach Geige. 1945 floh sie nach Oberbayern, wo sie sich unter anderem als Landarbeiterin und Barsängerin durchschlug, später auch als Lehrerin, Dolmetscherin, Übersetzerin und Journalistin.

Der schriftstellerische Durchbruch gelang ihr 1979 mit dem Roman "Der Mann auf der Kanzel: Fragen an den Vater", in dem sie sich mit der Schuld der Vätergeneration und mit der Rolle der Kirche in der NS-Diktatur beschäftigte. Damals begann sie sich auch für die Friedensbewegung und den Umweltschutz zu engagieren. Die Grünen im damaligen Stimmkreis Traunstein-Berchtesgaden drängten sie 1983 zur Kandidatur für den Bundestag, ihr aber war letztlich die "Freiheit zum Schreiben" wichtiger als ein politisches Amt.

Im Jahr 1982 erschien Heidi Glatzels Bildband "Reich-Weite. Fotografien vom Land", für den Ruth Rehmann ein eindringliches Vorwort verfasste. (Foto: Hans Kratzer/Archiv Hans Kratzer)

"Ich brauche das Schreiben, um mein Leben anzuschauen und zu befragen", sagte Ruth Rehmann. Dieses Bedürfnis schimmert in all ihren Romanen, Erzählungen und Hörbüchern deutlich durch. Nicht zuletzt in ihrem Roman "Die Schwaigerin" von 1985, der auch Spuren ihres eigenen bewegten Lebens enthält. Weil ihr die Verhältnisse auf dem Land tief vertraut waren, war sie prädestiniert dafür, ein Vorwort für einen 1982 erschienenen Bildband über das Landleben zu schreiben, in dem ihre große Formulierkunst und ihre gedankliche Tiefe auf wenigen Seiten zum Strahlen kommt. Die Fotografin Heidi Glatzel hatte in den 70er-Jahren Menschen auf drei einsam gelegenen Anwesen im Landkreis Landshut porträtiert, darunter ein Ehepaar, das noch ohne Strom und ohne die Segnungen der Moderne lebte.

Rehmann warnte davor, sich angesichts der vermeintlichen Idylle des Landlebens ein falsches Bild von der Welt zu machen. Die Vergangenheit, die sich auf diesen archaisch anmutenden Höfen ausdrückt, erscheine uns "wie eine verlorene Geborgenheit, wie ein Mutterschoß, in den wir zurückkriechen möchten", schrieb sie. Und doch zeuge alles Sichtbare von der Gewalt, die hier wirkt. Die mühsame Arbeit lasse keinen Platz für freie Wahl, Beliebigkeit, Mobilität. Der direkte Umgang mit Erde, Pflanze, Tier, Werkzeug, die unentfremdete Arbeit bringe nicht nur Geborgenheit, sondern auch Knechtschaft.

Ruth Rehmann schrieb bis ins hohe Alter. Sie starb im Januar 2016 in Trostberg.

Zum 100. Geburtstag von Ruth Rehmann gibt es an diesem Mittwoch (19 Uhr) im Stadtkino Trostberg eine Lesung aus ihrem neu aufgelegten Roman "Illusionen". Das Literaturhaus Oberpfalz in Sulzbach-Rosenberg widmet Rehmann am Donnerstag (19 Uhr) einen Abend.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGeflüchtete aus der Ukraine
:"Humor hilft, damit man weitermachen kann"

Die Flucht nach Deutschland ist dramatisch geglückt. Doch ihre Angehörigen in Mariupol sind weiter in Gefahr, von vielen haben sie seit Wochen nichts mehr gehört. Wie verkraftet man das? Eine Begegnung mit Familie Kramarenko.

Von Korbinian Eisenberger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: