Armut:"Es kann jedem passieren"

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Den Strohhalm, den Verein für Obdachlose und Hilfsbedürftige mit den rot-weiß gestreiften Türen und Fensterläden, kennt in Regensburg wohl jeder. (Foto: Deniz Aykanat)

In die Regensburger Obdachlosenhilfe "Strohhalm" kommen die unterschiedlichsten Menschen. Sie bekommen dort Unterschlupf, ein warmes Getränk und saubere Kleidung. Und einen Koch, der bislang in der Sterneküche gearbeitet hat.

Von Deniz Aykanat, Regensburg

Auf den Tischen steht die Oster-Dekoration, kleine Nester und Hasen aus Stroh, daneben Schalen mit Salztütchen, Teller mit aufgeschnittenem Baguette. An jedem Platz liegen säuberlich eingedeckt Messer, Gabel, eingeschlagen in Servietten. Dazu ein großer und ein kleiner Löffel, für Vorspeise und Nachtisch. Draußen regnet es in Strömen, bei jedem Öffnen der Tür dringt ein Schwall kalt-feuchter Luft herein. Drinnen ist es warm und es riecht nach frischer Hühnersuppe.

Drinnen, das sind Küche, Stube und Vorratskammer in einem gedrungenen Häuschen aus dem Mittelalter, mit zwei Holztüren und Läden an den Fenstern, rot-weiß gestrichen. Jeder in Regensburg kennt diese Hausfront in der Keplerstraße 18 an der Donau, wenige Meter von der weltberühmten Steinernen Brücke entfernt.

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Hier, beim Strohhalm, einem Verein, der sich um Obdachlose und Hilfsbedürftige kümmert, gehen täglich 50 bis 80 Essen über den Tresen, das Menü zu einem Euro. Früher waren es eher 30 bis 40 Essen. Seit Tausende Geflüchtete aus der Ukraine auch in Regensburg Zuflucht suchen, wird an manchen Tagen im Strohhalm in Schichten gegessen.

Gegründet wurde der Verein vor mehr als zwanzig Jahren von dem ehemaligen Stadtrat Josef Troidl. Der Strohhalm finanziert sich ausschließlich durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Inzwischen gibt es neben der Küche auch eine Kleiderkammer und zwei Häuser in der Altstadt mit Übergangswohnungen, auf die sparte der Verein zwei Jahrzehnte. Die Arbeit machen Dutzende Ehrenamtliche. Im vergangenen Herbst erhielt der Strohhalm den Sozialpreis der Bayerischen Landesstiftung.

Wer verstehen will, was Armut bedeutet, zumal in einer reichen Stadt wie Regensburg, wer verstehen will, wer und warum in Armut und Obdachlosigkeit gerät, der muss den Strohhalm besuchen.

Hartenberger und Ullmann füllen Teller und Schüsseln. Sie helfen, wie dutzende weitere Ehrenamtliche, mehrmals die Woche. (Foto: Deniz Aykanat)

Jürgen Hartenberger, Informatiker, und Sigrid Ullmann, Finanzbuchhalterin, beide im Ruhestand, verpacken gerade Brotzeit in Papiertüten. Jeweils eine dicke Scheibe Leberkäs, dazu eine Semmel oder ein paar Scheiben Brot, Obst. Dann gibt es noch Streichwurst von einer halben Meter langen Stange, die Hartenberger in Portionen schneidet. "Was halt gerade da ist", sagt er.

So beginnt auch der Tag von Koch Robert Niedermeier: Schauen, was da ist. "Ich wollte heute eigentlich was anderes kochen, aber der Hering musste weg, der wäre sonst verdorben." Deshalb gibt es jetzt halt Sahnehering mit Kartoffeln. Davor Hühner- und Kartoffelsuppe. Zum Nachtisch Kuchen mit Erdbeerkompott. In dem großen Suppenkessel sieht man die zerfetzten Hühnerteile schwimmen, Gemüse, Kräuter, oben die Fettaugen. Im Kuchen schmeckt man Vanille und Zitronenabrieb heraus. Nicht gerade das, was man in einer Armen-Küche erwarten würde.

Koch Niedermeier war ganz andere Gäste gewöhnt, als er im Strohhalm zu arbeiten begann. Menschen, die sich Menüs für mehrere hundert Euro leisten können. "Schäumchen und Pünktchen", nennt er die gehobenen Küche, die er vorher gekocht hat. Der 23-Jährige arbeitete bei Sterneköchen, schob 10-Stunden-Schichten. Dann hörte er über einen Freund, dass der Strohhalm sucht. "Ich verdiene übrigens fast das Gleiche wie in meinen Jobs davor." Es ist die einzige feste bezahlte Stelle beim Strohhalm. Dafür steht Niedermeier Montag bis Samstag am Herd.

Hat vorher in Sterne-Restaurants gekocht, beim Strohhalm gefällt es ihm trotzdem sehr: Robert Niedermeier. (Foto: Deniz Aykanat)

Anfangs hat er erstmal versucht, hier so zu kochen, wie er es gewohnt war. "Mit Säurespiel und so weiter", er verdreht die Augen und lacht. "Das habe ich mir ganz schnell abgewöhnt. Hier muss ich erst mal schauen, was es überhaupt gibt und dann ist Hausmannskost gefragt." Stören tut ihn das nicht. Hauptsache es ist frisch. Jeden Tag kocht er mit anderen Freiwilligen, plant das Essen, gibt die Schnippel-Aufträge. "Mir taugt das hier mit den Leuten. Ich bleib auf jeden Fall erstmal hier", sagt er.

Lässt man mal den Regensburger Hauptbahnhof hinter sich, dann vergisst man in dieser postkartenschönen Stadt sehr leicht, dass es auch Menschen gibt, die kein Dach über dem Kopf haben und die am Ende des Monats nicht wissen, wie sie sich noch etwas zum Essen leisten können. Hier können sie sich aufwärmen, sie können duschen, ihre Wäsche waschen und ihren Hunger stillen.

Aber der Strohhalm ist eigentlich für ein anderes menschliches Bedürfnis da: "Es ist ein Ort gegen die Vereinsamung", sagt Bürochefin Roswitha Lehner. Sie ist seit neun Jahren beim Strohhalm, davor leitete sie bis zu ihrer Rente die Geschäftsstelle des SSV Jahn Regensburg. Wichtig sei vor allem, dass der Strohhalm zentral in der Stadt liege, nicht irgendwo versteckt am Rand. "Hier bekommen die Hilfsbedürftigen das Gefühl, zur Gesellschaft dazuzugehören", sagt Lehner. Die Menschen sollen beim Strohhalm verweilen, sich unterhalten, wenn sie wollen. Sie werden an den Tischen bedient. Die Ehrenamtlichen kennen viele mit Namen, sie fragen nach der Verwandtschaft, erkundigen sich, wie es beim Amt lief oder ob die Erkältung endlich auskuriert ist.

Roswitha Lehner in ihrem winzigen Büro unterm Dach. Bis zu ihrer Rente leitete sie die Geschäfte beim SSV Jahn. (Foto: Deniz Aykanat)

Der Strohhalm ist vielleicht zugänglicher als andere soziale Einrichtungen der Stadt. Wie die Tafeln etwa, für die man einen Berechtigungsschein braucht. Beim Strohhalm braucht man nur einen Euro. Den halten viele beim Hereinkommen stolz in die Höhe und stecken ihn in den Schlitz der Geldkassette am Eingang. Und wer selbst den mal nicht hat, bekommt beim Strohhalm trotzdem ein Essen.

Hierher kommt ein Querschnitt der Gesellschaft. Echte Bettler, Obdachlose, auch solche, die freiwillig lieber im Wald schlafen. Hausfrauen, deren Männer so früh gestorben sind, dass die Witwenrente kaum zum Leben reicht, viele Geflüchtete. Den klassischen Weg in die Armut gibt es nicht.

Das Märchen, dass man alles schaffen kann, wenn man sich nur genug anstrengt, dass einem nichts passieren kann, wenn man sich an die Regeln hält, es hat mit der Realität wenig zu tun. Es ist ein Märchen, das von der Scham der Menschen am Leben gehalten wird.

Josef Engelbrechts Leben war mal ein Märchen. Der Kirchenmaler, heute 71 Jahre alt, stand mit beiden Beinen fest im Leben, wie man so schön sagt. "Ich hatte eine gute Vergangenheit." Die dampfende Suppe steht schon vor ihm. Er kommt immer etwas später, kurz bevor der Mittagstisch schließt und er zieht nie seine Jacke aus. Als würde er es sich nicht zu gemütlich machen wollen. "Ich hab' Theater gespielt, bin zu Fuß nach Rom und Lourdes gepilgert." Er baute ein eigenes Geschäft auf und ein Haus, wurde Vater.

Josef Engelbrecht ist Kirchenmaler und hat an die Decke der Stube ein Gedicht gemalt. Er kommt täglich in den Strohhalm. (Foto: Deniz Aykanat)

Dann ist ihm die Frau weggelaufen. "Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen." Drei Jahre lang lebte er auf der Straße, versteckte sich nachts in einer Kaserne. Der Kontakt zur Familie brach ab. Das ist bis heute so geblieben.

Mit dem Strohhalm hat er zunächst stark gefremdelt. "Was sind das für Leute?", hat er sich in seinem früheren Leben gefragt, wenn er an der rot-weißen Holztür vorbeifuhr. "Ich hätte nie gedacht, dass ich hierher gehe." Das erste Mal hat er sich reingeschlichen.

Er wurde zum Stammgast. Bei der großen Renovierung 2017 malte er, der Kirchenmaler, in tagelanger Arbeit ein selbstgeschriebenes Gedicht an die Decke der Stube. In Frakturschrift, mit Schattierungen, Schnörkeln. "Mia dan a neamad auße schmaiß'n, koane Hawara und a koane Preiß'n", steht da nun über den Köpfen.

Engelbrecht ist immer da, um ihn herum aber hat sich einiges geändert über die Jahre. "Die Armut wird größer", sagt Lehner. Dazu kommen die höheren Energiekosten. Weniger heizen wollten sie den Winter über trotzdem nicht. Das Häuschen mit den rot-weißen Türen ist oft der einzige warme Ort im Leben der Strohhalm-Gäste.

Noch ist die Vorratskammer gut gefüllt, doch das ändert sich im Lauf des Jahres. (Foto: Deniz Aykanat)

Die Vorratskammer ist gerade gut gefüllt. Sie zehren noch von der traditionell hohen Spendenbereitschaft um Weihnachten rum. Doch je weiter das Jahr vorrückt, desto mehr vergisst die Gesellschaft diejenigen am unteren Ende.

Hartenberger versucht, der Leere vorzubeugen. Den ganzen Vormittag hat er mit einem Bekannten telefoniert, der einen türkischen Lebensmittel-Großhandel betreibt und regelmäßig spenden will. "Die Bulgur-Versorgung ist gesichert!" Hartenberger ballt die Faust und grinst. Er ist schon eher der Optimist. "Aber jeder hat Momente in seinem Leben, wo er nicht klarkommt. Es kann jedem passieren."

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