Prozess in Passau:"Da geht doch keiner davon aus, dass da einer stirbt"

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Der Passauer Prozess gegen sechs Angeklagte im Fall Maurice K. wird voraussichtlich mindestens bis Mitte Januar dauern. (Foto: Armin Weigel/dpa)
  • Sechs Angeklagte im Alter zwischen 15 und 25 Jahren stehen in Passau vor dem Landgericht - sie sollen an einer Schlägerei beteiligt gewesen sein, nach der im April 2018 der 15-jährige Maurice K. verstorben war.
  • Am ersten Prozesstag äußerten sich zwei Angeklagte ausführlich, zwei ließen von ihren Verteidigern eine Erklärung verlesen, und zwei machten von ihrem Schweigerecht Gebrauch.
  • Das Gericht hat 40 Zeugen geladen, der Prozess wird voraussichtlich mindestens bis Mitte Januar dauern.

Aus dem Gericht von Hans Holzhaider, Passau

Der Fall hat weit über Passau hinaus Bestürzung und Ratlosigkeit hinterlassen: Am Abend des 16. April 2018 starb in einem Passauer Krankenhaus der 15-jährige Maurice K. Vorangegangen war eine Schlägerei, zu der sich der Schüler mit einem 16-Jährigen verabredet hatte. Vor dem Landgericht Passau begann am Donnerstag der Prozess gegen sechs Angeklagte im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die auf unterschiedliche Weise an der Schlägerei beteiligt gewesen sein sollen. Die Große Jugendkammer unter dem Vorsitz von Richterin Ursula Raab-Gaudin steht vor einer schwierigen Aufgabe. Die drei Richter und die beiden Schöffen müssen aus vielen, zum Teil widersprüchlichen Aussagen ermitteln, was sich genau an jenem Abend in der Fußgängerunterführung "Am Schanzl" abgespielt hat. Am ersten Prozesstag äußerten sich zwei Angeklagte ausführlich, zwei ließen von ihren Verteidigern eine Erklärung verlesen, und zwei machten von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Das Gericht hat 40 Zeugen geladen, der Prozess wird voraussichtlich mindestens bis Mitte Januar dauern.

Maurice K. und sein Kontrahent Larry D. (die Namen aller Angeklagten sind geändert) kannten sich schon länger; worum genau es bei der Auseinandersetzung ging, lässt die Anklage, die Staatsanwalt Jürgen Heinrich verlas, offen. Kerim F., 17, habe am Nachmittag des 16. April über Whatsapp Kontakt mit Maurice aufgenommen und ihm vorgeworfen, er "rede schlecht" über Larry D. Nach gegenseitigen Beleidigungen habe Maurice dann Kerim F. aufgefordert, die Sache "eins gegen eins" auszutragen.

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Kerim habe das jedoch abgelehnt und Maurice aufgefordert, er möge das mit Larry D. persönlich austragen - um 18 Uhr in der Unterführung. Kerim F. habe dann eine Reihe weiterer Personen verständigt und sie aufgefordert, zum vereinbarten Zeitpunkt am vereinbarten Treffpunkt zu erscheinen. Als Maurice K. dann kurz nach 18 Uhr, auch er in Begleitung mehrerer Freunde, in der Unterführung erschien, sei er schon von etwa 20 Personen erwartet worden.

Dort habe sich dann Florian B., 21, als eine Art Kampfrichter aufgespielt. "Wer will jetzt als Erster auf die Fresse", habe er gerufen, und "Wer macht eins gegen eins gegen Larry?" Er habe auch, sagt der Staatsanwalt, die Anwesenden eingeschüchtert, es dürfe sich niemand in den Kampf einmischen oder die Polizei rufen.

Larry D. habe dann die Tätlichkeiten mit einer Ohrfeige eingeleitet. Die beiden hätten sich wechselseitig Schläge und Tritte versetzt. Schließlich habe Maurice seinen Gegner zu Boden gebracht und dazu angesetzt, den am Boden Liegenden zu treten. Daraufhin habe Timur A., 17, eingegriffen und auf Maurice eingeschlagen. Das wiederum habe den 15-jährigen Murat E. und den 25-jährigen Richard C. veranlasst, sich in den Streit einzumischen. Murat E. habe Maurice von hinten angesprungen und ihn geschlagen, Richard C. habe ihm zwei Faustschläge im Bereich der Leber und an die Schläfe versetzt. Während der ganzen Zeit habe Kerim F. , der die Schlägerei angezettelt hatte, Larry D. angefeuert: "Schlag ihn, gib ihm einen Haken, bring ihm Respekt bei!"

Was sich genau an jenem Abend im April in der Fußgängerunterführung "Am Schanzl" abgespielt hat, ist zu Prozessbeginn noch unklar. (Foto: Sebastian Daiminger/dpa)

Als eine zufällig vorbeikommende Zeugin die Streithähne zum Aufhören auffordert, habe Florian B. gesagt: "Lass, lass, lass sie gehen, das ist so ausgemacht. Die müssen was klären." Als die Frau dann ankündigte, sie werde die Polizei rufen, liefen alle davon. Maurice K. habe zu diesem Zeitpunkt schon stark geschwankt, sagte der Staatsanwalt, sei aber noch selbständig bis zum Eingang der Unterführung gegangen. Dort sei er dann bewusstlos zusammengebrochen. Florian B. habe Maurice' Freunden hinterhergerufen: "Wenn ihr was zur Polizei sagt, ficke ich euch alle."

Ein Passant versuchte vergebens, den bewusstlosen Maurice wiederzubeleben. Er starb etwa eine Stunde später. Die Obduktion ergab, dass Maurice aufgrund eines Nasenbeinbruchs Blut eingeatmet hatte und erstickt war. Rechtlich bewertet der Staatsanwalt die Taten als Körperverletzung mit Todesfolge, im Fall des Florian B. begangen durch Unterlassen, weil er die anderen nicht von den Schlägen gegen Maurice abgehalten habe.

Larry D., der unmittelbare Kontrahent von Maurice K., kostete es sichtlich Überwindung, eine Aussage zu machen. "Schnaufens noch mal durch, wenn's Ihnen schwerfällt", riet die Richterin. Schließlich schilderte Larry D. leise und stockend, woran er sich noch erinnert. Worum es eigentlich ging bei dem Streit zwischen ihm und Maurice, wisse er gar nicht mehr. "Einfach so." Es habe schon vorher mal eine Auseinandersetzung gegeben, "aber nicht mit so vielen Leuten". Er sei pünktlich am Treffpunkt gewesen, Maurice sei eine halbe Stunde später gekommen. "Ich bin auf ihn zu und hab gesagt, er soll aufhören, so über mich zu reden. Dann hab ich ihm eine Watschn gegeben." Dann hätten sie sich gegenseitig geschlagen und getreten, schließlich habe er Maurice im Schwitzkasten gehabt.

"Bis dahin hat sich keiner eingemischt." Irgendwann sei er dann auf dem Rücken gelegen, "er stand und hat nach meinem Kopf getreten. Dann ist auf einmal ein Haufen Leute um mich rumgestanden". Maurice sei einen Schritt zurückgegangen, er sei aufgestanden, und dann sei auch schon die Frau gekommen und habe gesagt, sie werde die Polizei rufen, und er sei mit mehreren anderen weggelaufen.

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Ob er etwas von einem Video wisse, das jemand von der Schlägerei gemacht habe, fragt die Richterin. Er habe davon gehört, sagt Larry D., gesehen habe er es nicht. Sein Verteidiger Rudolf Schwarz erklärt zur allseitigen Überraschung, er habe davon gehört, dass an mehreren Schulen Lehrer dazu aufgefordert hätten, das Video sofort zu löschen. "Das ist mir völlig neu", sagt Staatsanwalt Heinrich. Richterin Raab-Gaudin regt ein Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung an.

Als nächster äußert sich Richard C., mit 25 der älteste unter den Angeklagten. "Mich hat das eigentlich nicht interessiert", sagt er, "das ist nicht meine Altersgruppe. Wer da wen gegen den Kopf tritt, das interessiert mich nicht." Er habe erst eingegriffen, als er gesehen habe, wie Murat E., "mein kleiner Cousin", zu Boden ging. Da sei er hin und habe Maurice K. zwei Faustschläge versetzt, gegen die Leber und gegen die Schläfe. Der habe aber auf die Schläge überhaupt nicht reagiert, sondern sei mit seinen Freunden "ganz normal weggegangen, der hat auch nicht getaumelt oder so".

Warum er dann am nächsten Tag seinem Halbbruder geschrieben habe, er habe jemanden "k.o. geboxt", fragt die Richterin. "Das sagt man so", antwortet Richard C., "das heißt nicht, dass er zu Boden gegangen ist. Das war eine ganz normale Schlägerei. Da geht doch keiner davon aus, dass da einer stirbt. Das will doch keiner".

© SZ vom 09.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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