Der Kardinal schaut von oben herab. Der Altar steht auf einer Empore, sechs Stufen ist Gerhard Ludwig Müller, 69, hinaufgestiegen. Der Dekan tritt ans Pult, nennt Kardinal Müller "einen überzeugenden Hirten". Oben der Hirte, unten die Schafe. Oben roter Teppich, unten harte Bierbänke. Es müllert wieder im Bistum Regensburg.
Sonntag, 9.30 Uhr, in Sulzbach-Rosenberg, Messe unter weiß-blauem Himmel. Ein paar Hundert Leute wollen den Mann sehen, den Papst Franziskus als Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan entlassen hat, manche sagen auch: gefeuert. Nun kehrt er dorthin zurück, wo er von 2002 bis 2012 Bischof war: ins Regensburger Bistum. Erst nach Sulzbach-Rosenberg, im Oktober nach Donaustauf, im November in den Regensburger Dom. "Dabei werden wir auf ein segensreiches Jahrzehnt zurückblicken, in dem Kardinal Müller als Bischof der Diözese Regensburg diente", kündigt das Bistum an.
Segensreiches Jahrzehnt? Das Bistum Regensburg reicht von Wunsiedel in Oberfranken bis Landshut in Niederbayern, von Deggendorf bis Amberg. Man kann nicht messen, wie viel verbrannte Erde Müller auf diesen 15 000 Quadratkilometern hinterlassen hat. Ein Flächenbrand war es schon, als er 2005 das Laiengremium des Bistums abschaffte und durch ein Diözesankomitee ersetzte. Am Dom trafen sich damals Hunderte Katholiken zum Protest, sie fühlten sich regelrecht kastriert in ihrer Mitsprache. Autoritär, abgehoben, arrogant, das sagten die Demonstranten über ihren Bischof. Für diese Leute war Müller nicht Diener, sondern Diktator. Sie waren heilfroh, als Papst Benedikt ihn nach Rom holte.
Die Bistumsspitze dagegen hofiert Müller bis heute. Auch unter dem derzeitigen Bischof Rudolf Voderholzer, heißt es, herrsche Müllers Geist. Nun also lässt das Bistum den Geist auch leibhaftig wieder aus der Flasche. Ausgerechnet jetzt.
Jetzt, da dokumentiert ist, dass mehr als 500 Chorknaben der Regensburger Domspatzen jahrzehntelang misshandelt oder missbraucht wurden. Da dokumentiert ist, dass Müller Verantwortung trägt für die "Schwächen der Aufarbeitung" des Domspatzen-Skandals. So steht es im Schlussbericht, den der unabhängige Aufklärer Ulrich Weber präsentiert hat. Das Bistum holt Müller trotzdem auf die Altarbühne nach Sulzbach-Rosenberg - und stellt ihn auf den roten Teppich.
"Wir sind alle Sünder", sagt Müller ins Mikrofon. Es ist jetzt still auf den Bierbänken in Sulzbach-Rosenberg. Aber er meint nicht die Sünden der Kirche in den Chor-Internaten. Von "Einzelfällen" sprach er, als er in Regensburg Bischof war, von einer Kampagne gegen die Kirche. Und heute? Wenn Kritiker sagen, er habe die Aufklärung des Domspatzen-Skandals verschleppt, dann sei das "ungerecht, weil es nicht den Tatsachen entspricht", wird Müller nach der Messe in Sulzbach-Rosenberg sagen. Er wird die Hände vorm Bauch kreuzen, wird die Daumen drehen und sich wieder nicht bei den Opfern entschuldigen. Eigentlich, wird er sagen, müssten die Kritiker doch ihn, den Kardinal, "um Vergebung bitten".
Auch Georg Bauerschmitt, 70, ist zur Messe nach Sulzbach-Rosenberg gekommen. Pensionierter Religionslehrer, Brille, Lederhose. Müller habe "die Auffassung, dass nur der Mensch Sünder ist und eine Institution kein Sünder sein kann", sagt Bauerschmitt, "Kritik sieht er als Angriff gegen sein Amt". Das ist es, was viele Katholiken ihrem früheren Bischof unterstellen: Dass er sich qua Amt für unantastbar hält, für unkritisierbar. Viele sehen darin auch den Grund, dass Müller in Rom gehen musste. Das habe ja nicht gut gehen können: hier Franziskus, der für eine Volkskirche steht, dort Müller, der einer Kirche der Hierarchie nachhängt.