Unternehmen:Bayerns Fahrradindustrie setzt auf die Nische

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In der Werkstatt werden die Teile wie bei einem Puzzle zusammengesetzt. Rund 20 Meter Kabel sind alleine im Hohlrahmen des Rads verbaut. (Foto: Maximilian Gerl)

Von diesem Umbruch profitieren vor allem Manufakturen. Die Firma Rennstahl aus Garching setzt etwa auf hochwertige Spezialanfertigungen für einen erlesenen Kundenkreis.

Von Maximilian Gerl, Garching

Wenn die einen mit Strampeln aufhören, fangen die anderen an. Für Andreas Kirschner und seine Leute beginnt die Radl-Saison erst im Herbst, in der Werkstatt stehen Fahrräder herum, Kisten und Kartons. Ein Kollege fräst Löcher in eine Metallkonstruktion, die mal Gepäckträger sein wird, ein anderer schraubt an einem Lenker. "Wir arbeiten antizyklisch", sagt Kirschner. Viele Kunden bestellten jetzt, damit sie sich zu Frühlingsbeginn auf ihr neues Gefährt schwingen könnten. Die Wartezeit liegt bei fünf Monaten. "Wir sind am Limit", sagt Kirschner.

Die bayerische Fahrradindustrie ist in Bewegung. Dabei war das Rad als Verkehrsträger schon abgeschrieben: zu langsam, zu altmodisch, zu unkomfortabel, gerade im Vergleich zu Autos. Zu wenig Statussymbol. Doch inzwischen ist das Rad wieder angesagt. Für die Branche birgt das neue Chancen und Herausforderungen - und nicht zuletzt Platz für neue Hersteller und Marken.

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Zum Beispiel Rennstahl aus Garching bei München. Die Firma liegt ein wenig versteckt in der Fußgängerzone. Am Eingang kein Schild, das ist gewollt. Wer hierherkommt, weiß meist, was er will. Kirschners Frau und Sohn kümmern sich um die Büroarbeit, drei Mitarbeiter um die Werkstatt. Das Geschäftsmodell: individualisierbare Renn- und Reiseräder, auf den Fahrer zugeschnitten. "Wie ein Maßanzug", sagt Kirschner. Der Rahmen bleibe in seiner Form stets gleich; bei Dingen wie Rahmengröße, Bremsen, Griffen, Sitzen und Elektromotor bestehe Spielraum. Statt Carbon oder Alu verwendet er vergleichsweise schweren Stahl oder Titan, das soll Haltbarkeit und Steifigkeit der Räder verbessern. Die Preisspanne reicht je nach Modell und Ausstattung von 3000 bis 8000 Euro. "Wir haben auch schon eins für 11 000 Euro verkauft", sagt Kirschner. Der Zusammenbau der Räder ähnelt dann einem Puzzle. Die Teile werden in Garching angeliefert und in der Werkstatt von Hand an- und eingepasst. 16 Stunden Arbeit, ein Fahrrad.

Heute gilt der Freistaat als Autoland, dabei ist Bayern viel länger Radl-Land. Einer der frühesten Nachweise stammt aus dem Jahr 1884, als der "Velopecid"-Hersteller Jakob Günther in Augsburg inseriert. Wenig später steigt Nordbayern zum Zentrum der Industrie auf, mit Marken wie Victoria, Hercules und Windora. Von Schweinfurt aus revolutioniert 1907 der Zulieferer Fichtel & Sachs die Branche mit einer neuartigen Nabenschaltung, dem Modell "Torpedo". Nach dem Zweiten Weltkrieg aber liegen vielerorts Produktionsstätten in Trümmern. Wer es sich leisten kann, steigt im Zuge des Wirtschaftswunders ohnehin auf immer größere Autos um. Einige Rad-Marken verschwinden, andere gehen in Konzernen auf.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind wieder ein paar Namen hinzugekommen. Zum Beispiel Cube aus Waldershof (Landkreis Tirschenreuth), 1993 gegründet und inzwischen mit mehreren hunderttausend Rädern pro Jahr einer der größten deutschen Produzenten. Oder YT Industries, 2008 in Forchheim gegründet, heute ein Unternehmen mit rund 100 Mitarbeitern und 50 Millionen Euro Jahresumsatz. Die meisten Neulinge sind indes kleine Manufakturen, die versuchen, eine Nische zu besetzen. Wie Rennstahl. 2005 experimentieren Student Kirschner und Kommilitonen, für sich selbst bauen sie drei Räder. Freunde und Bekannte werden auf die Spezialanfertigungen aufmerksam. Kirschner baut weiter. "Erst waren es sechs Räder im Jahr, dann zehn, dann 25", sagt der Wirtschaftsingenieur, "irgendwann gab es einen Sprung." Dieses Jahr werden es zwischen 500 und 600 Stück sein.

Das Fahrrad ist eine komplexe Ingenieurleistung. Verändert man ein Detail, muss man etliche nachbessern. Kirschner kennt Hunderte Aspekte; begeistert spricht er über die Wirkung unterschiedlicher Durchmesser bei konisch geformten Körpern, über die Schönheit exakt gezogener Schweißnähte, über den Reibungswiderstand von Zahnrädern. Viele seiner Kunden, sagt er, suchten einen Autoersatz. Also müsse er Qualität und Zuverlässigkeit liefern. Kirschner führt in einen separierten Teil der Werkstatt. Gerade schraubt ein Kollege einen E-Motor vom Rad. Bunte Drähte ragen heraus, wo später Antrieb und Pedale sein werden. 20 Meter Kabel sind im Hohlrahmen verlegt, die Lampe muss an die Batterie angeschlossen werden, der Motor mit der Schaltung kommunizieren. Kein Wunder, dass der Beruf des Fahrradmechanikers offiziell umbenannt wurde: in Zweiradmechatroniker.

Das Geschäft in Garching ist Familiensache: Andreas, Astrid und Philipp Kirschner kümmern sich darum. (Foto: Maximilian Gerl)

Manufakturen profitieren von gestiegenen Kundenansprüchen. Wie in vielen Branchen wird auch das Fahrrad immer mehr zum Premium- und Lifestyleprodukt. Das schafft Möglichkeiten abseits der Massenware. E-Bikes geben dieser Entwicklung zusätzlich Schub. Wohl 850 000 Stück, so Schätzungen, werden allein in diesem Jahr in Deutschland verkauft. Auch Trends kurbeln regelmäßig den Absatz an. So waren vor ein paar Jahren Fatbikes - Fahrräder mit extrabreiten Reifen - schwer angesagt. Heute hört der neueste Schrei auf den Namen Gravelbike. Eine Mischung aus Berg- und Straßenrad, gedacht als sportliche Alltagsvariante, mit der man auf dem Weg zur Arbeit auch mal übers Feld rattern kann, ohne dabei aus dem Sattel zu fliegen.

Auch die Branche versucht, im Sattel zu bleiben. Geld hilft. Wer mit dem technologischen Fortschritt mithalten oder gar innovativ sein will, muss immer mehr investieren: gerade für kleine Firmen eine Herausforderung. Eine andere ist der Mangel an Fachkräften. Angehende Mechatroniker zieht es eher in den Automobilbereich mit seinen Großunternehmen, sie locken mit attraktiven Jobs und Gehältern. "Uns fehlt vielleicht ein bisschen das Image", sagt Kirschner, dabei sei die Zeit der Garagen- und Hinterhofbastler längst vorbei.

Rennstahl hat sich in der Nische eingerichtet. Für die Räder aus Stahl und Titan hat die Firma mehrere Preise gewonnen, das schafft Bekanntheit. Und der Konkurrenz sei der Maßrahmenbau eh meist zu aufwendig, sagt Kirschner.

Laufkundschaft muss er dagegen ablehnen: Radler, die nach einem neuen Schlauch fragen oder einer Reparatur. "Die schicke ich weiter", sagt Kirschner. Ganz in der Nähe sind zwei weitere Fahrradgeschäfte.

© SZ vom 24.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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