Wie ernst die Lage in Berlin auch in der CSU erachtet wird, war am Sonntag eindrucksvoll zu besichtigen. Unmittelbar nach dem angekündigten Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles tat sich erst einmal: nichts. Auch mittelbar wartete man vergebens auf eine Reaktion aus der Münchner Parteizentrale. Erst am späten Nachmittag meldete sich Markus Söder via Twitter. Bei einem CSU-Vorsitzenden, der Geschwindigkeit und frühe Deutungshoheit zum politischen Grundprinzip erhoben hat, war die anfängliche Sprachlosigkeit durchaus als Ausdruck verschärfter Krise zu verstehen.
Man kann allerdings davon ausgehen, dass Söder die Zeit hinter den Kulissen intensiv genutzt hat. Hier eine Telefonschalte mit dem CSU-Präsidium, da Gespräche mit den Spitzen der Schwesterpartei. Auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Kanzlerin Angela Merkel äußerten sich ja spät am Tag. Die wichtigsten Fragen umschifften sie so weiträumig wie Söder: Wie lange hält das Regierungsbündnis mit der SPD überhaupt noch? Und welche Folgen ergeben sich daraus?
Ja, die CSU stehe zur Koalition, bekräftigte Söder am Montag am Rande einer Sitzung der Unionsfraktionsvorsitzenden im thüringischen Weimar. Am Zug sei jetzt die SPD. Sie müsse nicht nur klarmachen, wie sie ihr Personal erneuere, sondern wie ihr Kurs aussehe: Ja zur großen Koalition? Ja, aber? Oder gar nein? "Das ist das Signal, das gesetzt werden muss", forderte Söder. Damit hat er routiniert das kleine Einmaleins des Krisenmanagements angewendet. Die eigene Partei soll als verlässlich erscheinen, der Druck des Scheiterns wird an den Koalitionspartner weitergereicht.
Intern setzt sich die CSU indes sehr konkret mit etwaigen Neuwahlszenarien auseinander. Die Geschichte der Groko sei auserzählt, nur die Furcht von CDU und SPD halte das Bündnis noch zusammen, sagt ein führender CSU-Mann. Auch die christsoziale Begeisterung für vorgezogene Bundestagswahlen bewegt sich in der unteren Euphorie-Skala. Wahlen kosten Geld. Es braucht geeignetes Personal. Die außergewöhnlich guten Umfragewerte für die Grünen tun ihr Übriges. Und doch wähnt sich die CSU besser aufgestellt als vor Monaten. Die Europawahl, die nach Jahren der Dürre wieder eine Vierzig plus kleinem X als Ernte eingebracht hat, stärkt die Zuversicht.
Eine große Koalition ergibt aus Sicht der CSU nur Sinn, wenn sie auch große Projekte vorantreibt. Die bisherigen Runden im Koalitionsausschuss hätten bei Söder einen anderen Eindruck hinterlassen, heißt es aus der Partei. Selbst für kleine Kompromisse werde stundenlang verhandelt, zu sehr haben sich Union und SPD im Klein-Klein verhakt, wie das Beispiel Grundsteuer zeigt. Söder hat Nahles geschätzt, beide konnten sich aufeinander verlassen. Einfacher dürfte es nach Nahles' Rückzug nicht werden. Eine neue SPD-Führung braucht Erfolge, der Verhandlungsspielraum wird geringer als bisher ausfallen. Söder stellte am Montag klar, dass er nur um des Friedens willen zu keinen inhaltlichen Zugeständnissen bereit ist. "Es wird jetzt keiner in der Union auf die Idee kommen, aufgrund der Situation der SPD jeden Tag nur entgegen zu kommen."
Die Groko hat in der CSU zwar keine Zukunft mehr, mit einem überstürzten Ende rechnet allerdings auch niemand. Erst im nächsten Jahr, vielleicht zu den Kommunalwahlen im März, werde wohl ein neuer Bundestag gewählt. Erst im Herbst nach den Wahlen in den ostdeutschen Ländern dürfte die SPD eine neue Spitze bekommen. In der CSU-Landesleitung stellt man sich ungeachtet aller Dementis auf Manuela Schwesig ein, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern.
Nicht minder spannend ist die Frage, mit welchem Personal die Union in Wahlen ziehen will. Die neuen Parteivorsitzenden Söder und Kramp-Karrenbauer demonstrieren bei jeder Gelegenheit eine Harmonie, als wären sie wirklich Freunde und keine Zweckbündnispartner, die den jahrelangen Streit zwischen CDU und CSU vergessen machen wollen. Obwohl den Strategen in München nicht entgangen ist, dass AKK an Schwung verloren und Unsicherheit zugelegt hat, dürfte sie die besten Aussichten auf die Kanzlerkandidatur haben. "Wir beteiligen uns an keinen Personalspekulationen", sagt Söder. Es ist aber kein Geheimnis, dass er sich mit einem weiteren potenziellen Anwärter ebenfalls gut versteht. Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, war mit seinem Kabinett schon in München zu Gast. Söder und der CDU-Mann tauschen sich regelmäßig aus.
Wer könnte die CSU-Liste anführen?
Völlig offen ist, wer die CSU-Liste anführen könnte. Die Posten in Bayern sind fest verteilt, Ausflüge wie zuletzt von Innenminister Joachim Herrmann blieben nicht in bester Erinnerung - inklusive beim Beteiligten. Auch von den Bundespolitikern drängt sich kaum jemand auf. Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hat sich mit Söder zwar einstweilen arrangiert, zieht es aber konsequent vor, lieber am Bild als versierter Taktiker zu arbeiten als an seiner Beliebtheit. Innenminister Horst Seehofer hat bereits erklärt, dass er bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten wird.
Bei seinen Kabinettsbildungen in Bayern hat Söder gezeigt, dass er auf Namen so wenig Rücksicht nimmt wie auf Verdienste, wenn er eine Aufstellung mit Perspektive finden will. Die Zukunft der weiteren Bundesminister verharrt daher im Ungewissen. Gerd Müller (Entwicklung) steht mit bald 64 Jahren für Sachverstand und Erfahrung, aber vor allem für die Gegenwart. Die Arbeit von Andreas Scheuer (Verkehr) wird zwiespältig bewertet. "Ich wette nicht auf ihn", sagt ein CSU-Vorständler. Dorothee Bär, die Staatsministerin für Digitales, erfüllt zwar Söders Forderung nach mehr Jugend und Frauen. Aber auch nach Kompetenz und Charisma?
Über das Personal, behaupten seine Leute, mache sich Söder jetzt noch keinerlei Gedanken. Viel wichtiger sei es mit Blick auf die Grünen, weitere inhaltliche Akzente im Klimaschutz zu setzen. An diesem Dienstag befasst sich das bayerische Kabinett mit dem Schwerpunkt Energiepolitik.