Bildung in Bayern:"Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, fahren wir die Inklusion an die Wand"

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Zu erklären, warum immer mehr Kinder verhaltensauffällig werden, ist nicht einfach. Überforderte Familien können genauso eine Rolle spielen wie schlechte Fremdbetreuung. (Foto: dpa)
  • In Bayern steigt die Zahl der verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen.
  • Die SPD sieht dadurch das Ziel der Inklusion in Gefahr und schlägt Alarm.
  • Viele Eltern weigern sich wegen des Stigmas, zum Arzt zu gehen. Damit bleiben die Lehrer mit den Kindern allein.

Von Anna Günther, München

Die Zahl der verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen in Bayern steigt. So deutlich, dass Lehrer, Schulpsychologen und die SPD Alarm schlagen. Fast 8000 Mädchen und Buben mit sozial-emotionalem Förderbedarf lernten im vergangenen Schuljahr in allen Schulen, etwas mehr als die Hälfte besuchte sonderpädagogische Förderzentren. 2300 dieser Kinder lernten an Grundschulen.

Das sind nur all jene, deren Verhaltensauffälligkeit von Kinderpsychiatern diagnostiziert wurden. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus höher ist. "Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, fahren wir die Inklusion an die Wand", sagt Martin Güll, der bildungspolitische Sprecher der SPD. Auch insgesamt gibt es immer mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, egal ob in Regelschulen oder Förderzentren. Derzeit sind es gut 75 000 Mädchen und Buben.

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Güll fährt seit Wochen durchs Land und hört sich an Schulen um. Was die Lehrer erzählten, sei schockierend, sagt er. Von Grundschülern sei die Rede, die sich selbst verletzen oder in der Klasse einnässen, von Schülern eines Land-Gymnasiums, die morgens volltrunken von hilflosen Klassenkameraden in die Schule geschleift werden. Und von Eltern, die sich weigern, mit ihren Töchtern und Söhnen zum Kinderpsychiater zu gehen.

Andere stören anhaltend den Unterricht, um Grenzen auszutesten. Ein solcher Schüler zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, die anderen Kinder haben das Nachsehen. "Besonders die Grundschullehrer fühlen sich allein gelassen, sie sind keine Sonderpädagogen und es gibt kaum Interventionsmittel", sagt Güll. Bei solchen Kindern aber müsse man sofort eingreifen. "Wenn ich zulasse, dass diese Kinder, die nach Hilfe schreien, den Schulalltag dominieren, hat niemand etwas davon."

Auch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste (MSD), die Regelschulen bei der Inklusion unterstützen, meldeten, dass aggressives Verhalten Grund- und Mittelschullehrer bedrückt, sagt Johann Lohmüller, der Chef des Verbands Sonderpädagogik Bayern. Verhaltensauffälligkeiten stünden mehr im Fokus als Lern- oder Sprachförderbedarf.

Zu erklären, warum immer mehr Kinder verhaltensauffällig werden, ist nicht einfach - darin sind sich alle einig. Überforderte Familien können genauso eine Rolle spielen wie schlechte Fremdbetreuung, sagt Güll. Es gibt aber auch mehr Kinderpsychiater, die mehr Mädchen und Buben behandeln und diagnostizieren können. "Die Werte haben sich verschoben. Was früher ein lebhaftes Kind war, ist heute ADHS", sagt Lohmüller.

Außerdem seien die Grenzen des geduldeten Verhaltens enger, der Leistungsdruck sei höher als früher und Kinder würden schneller auffällig. Kinder, die früh mit digitalen Medien ruhig gestellt werden, können laut Lohmüller Bindungsstörungen entwickeln. Das führe dazu, dass sie sich auch in der Schule nicht in soziale Gruppen einfügen und permanent Grenzen testen. "Selbst wenn der Lehrer weiß, dass diese Kinder nicht ihn persönlich testen, sondern das System, macht das betroffen", sagt Lohmüller.

"Die Kollegen an den Grund- und Mittelschulen gehen in die Knie"

Ein Grundproblem ist, dass nur mit einer ärztlichen Diagnose das System greift und Schüler wie Lehrer von Schulbegleitern, Sonderpädagogen oder Jugendsozialarbeitern unterstützt werden. Aber viele Eltern weigern sich wegen des Stigmas, zum Arzt zu gehen. Damit bleiben die Lehrer mit den Kindern allein. "Die Kollegen an den Grund- und Mittelschulen gehen in die Knie", bestätigt Hans-Joachim Röthlein, der Vorsitzende des Schulpsychologenverbandes.

Schnelle Hilfe könnte für ihn ein Fallmanagement bringen: Derzeit arbeiten Jugendamt, Sozialarbeiter und Psychologen oft an einem Kind - über das sie wegen der Schweigepflicht nicht sprechen dürfen. Der Sonderpädagoge Lohmüller hält wie der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband multiprofessionelle Teams für eine Lösung, denn die Hilfsangebote seien da. Aber Lehrer müssten auch lernen, genau hinzuschauen und sich auf diese Kinder einzulassen.

Martin Güll dagegen wünscht sich finnische Verhältnisse: Dort sind an jeder Schule Sonder- und Sozialpädagogen, Erzieher, Schulpsychologen und eine Krankenschwester im Einsatz. Das dünn besiedelte Finnland ist aber mit dem Freistaat kaum zu vergleichen. Hier kommen derzeit auf 6100 Schulen und 1,7 Millionen Schüler insgesamt 880 Schulpsychologen und 1188 Jugendsozialarbeitern an Schulen.

Realistischer ist ein Experten-Pool je Landkreis, aber selbst wenn die Staatsregierung diese SPD-Idee umsetzen würde, würde viel Zeit vergehen. Für schnelle Hilfe müsste das Ministerium endlich kreativ denken, sagt Güll, und zum Beispiel Pädagogen kurz vor der Pension nicht länger als Klassleiter, sondern in einem Interventionsteam einsetzen. Oder Volksschullehrern mit einem Crashkurs Sonderpädagogik fortbilden.

© SZ vom 13.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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