Romantik
Obwohl reine Reminiszenz an die Sagen von Gralsrittern und Herzoginnen ist Neuschwanstein zum Inbegriff einer romantischen Burg des Mittelalters geworden. Der Wiederaufbau alter Burgen war im Historismus üblich, einzigartig an Neuschwanstein ist, dass von der mittelalterlichen Burg über der Pöllatschlucht nur noch Ruinen standen. Das ermöglichte es Ludwig II. seine "Neue Burg Hohenschwangau" in Anlehnung an die Eisenacher Wartburg ganz nach seiner idealtypischen Vorstellung des Mittelalters zu konzipieren. Genug Inspiration hatte er in seiner Jugend bei Mittelaltersagen und später bei Richard Wagners Opern "Lohengrin", "Tannhäuser und "Parsifal" gesammelt. Mit seinem alles überragenden Baudenkmal kompensierte Ludwig II. seine schwindende Macht. So unterzeichnete er 1870, ein Jahr nach Baubeginn in Neuschwanstein, Otto von Bismarcks berühmten Kaiserbrief, trug damit dem preußischen König Wilhelm I. die deutsche Kaiserkrone an und erhielt im Gegenzug geheime Geldzahlungen.
Maßlose Kunst
Die Innenarchitektur folgt einer ausgefeilten Dramaturgie mit dem wiederkehrenden Element des aufsteigenden Schwans. Der steht als Symbol der Reinheit und ist Wappentier der Schwangauer Grafen, als deren Nachfahre Ludwig II. sich verstand. Das Tier zierte Wasserhähne, Glasfenster und das Dach der königliche Kutsche. Die Innenräume des Schlosses sind ein Hort von feinstem Kunsthandwerk: Da finden sich kleinteilige Schnitzereien im Schlafzimmer, großformatige Ölgemälde und kunstvolle Beschläge.
Technische Innovation
Fließendes, teils sogar warmes Wasser, automatische Drehspieße in der Küche, Speiseaufzug, batteriebetriebenes Licht, Warmluftheizung: Heute würde man Ludwig II. als "Early Adopter" bezeichnen, neue Produkte wollte er sofort haben und ausprobieren. In seinen Privaträumen ließ er eine batteriebetriebene Klingel installieren. Drückte er das Knöpflein, konnten die Diener von einer Signaltafel im Vorzimmer ablesen, in welchen Raum sie gerufen wurden. Schon als Bub war er im benachbarten Schloss Hohenschwangau in den Genuss einer Klospülung gekommen. In Neuschwanstein zählte sie zum Standard, das einfache Volk benutzte noch Jahrzehnte das Plumpsklo. Auch ein Telefon gab es im Schloss - das Kabel reichte aber zunächst nur bis Hohenschwangau.
Einsamkeit
Der zwei Stockwerke hohe Thronsaal ist Sinnbild für Ludwigs Sehnsucht nach dem Alleinsein. In den ersten Bauplänen waren statt des Prunksaals noch Fremdenzimmer und ein Speisesaal geplant, später wurden sie gestrichen. Als Ludwig das Schloss bewohnte, hatte er 15 Bedienstete, darunter Köche, einfache Diener und den Kammerdiener. Aber auch gegenüber seiner rechten Hand galt er als streng und anspruchsvoll. Vier bis fünf Wachen reichten, um das Schloss zu sichern. Den fertigen Bau bekamen nur wenige Vertraute zu Gesicht. Darunter seine Mutter, Königin Marie, die in Hohenschwangau residierte, und sein Vetter Karl Theodor. Auch Elisabeth von Österreich war unter den Auserlesenen. Sie durfte das Schloss in seiner Abwesenheit besichtigen.
Unterhalt
Die Erdgasheizung hat zuletzt gerade einmal 18 000 Euro Kosten im Jahr verursacht. Der Unterhalt ist dennoch immens teuer, gerade restauriert der Freistaat wieder für 20 Millionen Euro: Dabei werden unter anderem 93 Räume, 65 Gemälde, 355 Möbel, 228 Textilien, 322 kunsthandwerkliche Objekte und 315 Holzbauteile aufgeschönt.
Unvollendetes
Die Fantasie Ludwigs kannte keine Grenzen. Neben der künstlich angelegten Tropfsteinhöhle sollte am westlichen Ende des Hauptgebäudes noch ein Ritterbad entstehen, ein mannshohes Badebecken, wie er es auf der Wartburg besichtigt hatte. Aber nicht mit kaltem Wasser, sondern gemütlich warm wie eine Badewanne. Der Durchlauferhitzer - ein riesiger Kohlenkessel - war schon eingebaut, wurde aber nie in Betrieb genommen. Auch bei den Prunkräumen sollte es nicht bei Sänger- und Thronsaal bleiben. Ursprünglich war im zweiten Stock des Palas noch ein "Maurischer Saal" geplant. Ein weiteres Bauvorhaben, das noch anstand, war der Bergfried an der Ostseite des oberen Hofs: ein hoher Turm und im Mittelalter Kern der Verteidigung einer Burg.
Grundstein
Genau zum Jubiläum ist jetzt der Grundstein entdeckt worden, ein Sprengkommando des Landeskriminalamtes hatte mit einem elektromagnetischen Minensuchgerät danach geforscht. Gefunden wurde er in einer Wand des Ritterbads. Dort soll er bleiben, samt der Kapsel, die eine Urkunde, Pläne, Königsporträts und eine Marienfigur enthalten soll.
Massenabfertigung
Die heutigen Besucherströme - bis zu 1,5 Millionen Menschen pro Jahr - stehen in maximalem Kontrast zum menschenscheuen König. Kein Fremder sollte sein Schloss betreten, ihm allein sollte es privates Refugium sein. Heute werden, abgesehen von vier Tagen im Jahr, täglich 4000 bis 8000 Menschen durch seine Gemächer geschleust. Wer sich ausmalt, dabei ausgiebig in den goldglänzenden Sälen zu flanieren, der irrt. Jede Führung dauert 35 Minuten - für jene, die zuvor drei Stunden angestanden haben, macht das nicht einmal ein Sechstel des Schlossbesuchs aus. Die Massen hält das nicht ab: Am 14. August 2007 wurde der Besucherrekord das letzte Mal gebrochen, 8332 Menschen, passierten das Schlosstor. Mittlerweile stammen 70 Prozent der Besucher aus dem Ausland. Am häufigsten werden Führungen auf Englisch, Mandarin und Spanisch gebucht. Deutschland-Reisende wählen das Schloss auf Platz drei der Topsehenswürdigkeiten, so geben es zumindest 32 000 Befragte beim Deutschen Tourismusverband an. Unter Deutschen selbst belegte Neuschwanstein 2009 Platz vier, hinter dem Kölner Dom, dem Reichstag und der Dresdner Frauenkirche. Von Barrierefreiheit ist der majestätische Bau jedoch weit entfernt - für die Besichtigung muss man in der Lage sein, 169 Treppen hoch und 204 Treppen hinunter zu steigen.
Bauarbeiten
Bei der Grundsteinlegung am 5. September 1869 war der König nicht dabei, ansonsten überwachte er die Bauarbeiten nahezu lückenlos: Rund 300 Arbeiter waren 17 Jahre lang fast ständig beschäftigt - auch nachts, mit Hilfe von sehr hellen, leicht explosiven Karbidlampen. Zehn-Stunden-Schichten waren normal, dafür gab es sogar eine Art Sozialversicherung: Wer krank war, bekam trotzdem Geld; Nachtschichten wurden doppelt bezahlt. Neuschwanstein war während des Baus der größte Wirtschaftsfaktor der Region - und ist es heute wieder.
Legende
Bereits in seiner Jugend plagten Ludwig II. Depressionen. Er ging spät zu Bett und schlief lange. Mitte der 1870er-Jahre stellte er seinen Rhythmus vollständig auf die Nacht um und arbeitete bis acht Uhr morgens. Was man heute wohl als Borderlinestörung bezeichnen würde, diagnostizierten vier Gutachter damals als "Paranoia" (Verrücktheit). Daraufhin wurde der Bausüchtige im Jahr 1886 in Neuschwanstein festgesetzt und im Schloss Berg interniert. Am Pfingstsonntag 1886 ertrank Ludwig unter rätselhaften Umständen mit seinem Psychiater Bernhard von Gudden im Starnberger See.