1800 Meter ragt die Watzmann-Ostwand vom Königssee bis zur Watzmann-Südspitze auf, damit ist sie die längste durchgehende Felswand der Ostalpen. Wenigstens sieben Kletterrouten führen durch die Watzmann-Ostwand, alle starten sie hinter in St. Bartholomä am Königsee. Seit ihrer Erstbesteigung durch den Holzknecht und Bergführer Johann Grill aus Ramsau und den Wiener Bergsteiger Otto Schück im Sommer 1881 ist sie noch immer eine große Herausforderung für Alpinisten. Schon mehr als hundert haben ihr Leben in ihr gelassen.
Wally fühlt sich richtig wohl in der Watzmann-Ostwand. Das Bartgeier-Weibchen, das im Juni nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt im Nationalpark Berchtesgaden ausgewildert worden ist, hält sich unverdrossen dort auf. Zusammen mit ihrer Artgenossin Bavaria ist Wally Teil des großen Bartgeier-Wiederansiedlungsprojekts des Landesbundes für Vogelschutz (LBV). Die SZ begleitet das Projekt von Anfang an. "Die Watzmann-Ostwand ist aber auch ein optimaler Lebensraum für so einen Riesen-Greifvogel", sagt der Biologe und Projektleiter Toni Wegscheider. "Von ihr aus kann Wally schnell ins Steinerne Meer hinüberfliegen. Da findet sie einen reichlich gedeckten Tisch."
Newsletter abonnieren:Mei Bayern-Newsletter
Alles Wichtige zur Landespolitik und Geschichten aus dem Freistaat - direkt in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.
Im Steinernen Meer leben unzählige Gämsen, im Sommer werden von österreichischer Seite regelmäßig mehrere Hunderte Schafe hinaufgetrieben, die sich dann monatelang frei auf den Bergweiden dort aufhalten. "Da fallen immer genügend Kadaver und Knochen an, auf die die Bartgeier aus sind", sagt Wegscheider. "So lange Wally dort genügend Nahrung findet, dürfte sie noch bei uns in der Region bleiben."
Das Treiben der beiden Bartgeier kann minutiös nachverfolgt werden
Bavaria hingegen hat sich offenkundig endgültig aus dem Nationalpark verabschiedet. In der zweiten Oktoberhälfte ist sie wie aus heiterem Himmel zu einem dreitägigen Direktflug in Richtung Osten gestartet und erst in der Rax-Schneeberg-Gruppe wieder gelandet. Die liegt ungefähr 80 Kilometer vor Wien und zählt zu den Hausbergen der Wiener. Der Flug war recht beachtlich, die Strecke misst 380 Kilometer Luftlinie. Die tatsächliche Strecke war aber sehr viel länger. Denn Bavaria ist einen Zick-Zack-Kurs entlang der Berggipfel geflogen.
Schafhirtin in Freising:"Eine Landwirtschaft zum Anfassen wäre mein absoluter Traum"
Franziska Müller-Waldeck ist promovierte Agraringenieurin. Seit ein paar Jahren hält sie eine Herde der vom Aussterben bedrohten Waldschafe in Freising. Was sie dazu bewegt hat.
Es hat Bavaria freilich nicht lange an der Rax gehalten. Nach wenigen Tagen hat sie umgedreht und ist in die Niederen Tauern geflogen. Inzwischen hält sie sich etwa 50 Kilometer Luftlinie vom Nationalpark Berchtesgaden entfernt am Dachstein auf - "in direkter Nähe zur Gletscherbahn", wie Wegscheider berichtet. Wegscheider kann das Treiben der beiden Bartgeier minutiös nachverfolgen. Wally und Bavaria tragen hochmoderne GPS-Sender auf dem Rücken. Sie übermitteln in regelmäßigen Abständen die Aufenthaltsorte der beiden Greifvögel an Wegscheiders PC.
Sie fressen nur Aas und Knochen
Bartgeier (Gypaetus barbatus) zählen zu den spektakulärsten Greifvögeln weltweit. Das liegt vor allem an ihrer Größe - ihre Flügelspannweite beträgt bis zu 2,90 Meter -, aber auch an dem hakenförmigen Schnabel und den schwarzen Federn, die von ihm borstenartig nach unten abstehen. Von ihnen hat der Bartgeier seinen Namen. Die Greifvögel sind harmlos. Sie fressen nur Aas und Knochen. Gleichwohl sind sie in den Alpen ausgerottet worden. Das hatte mit dem über Jahrhunderte gepflegten Irrglauben zu tun, dass sie Schafen und sogar Kleinkindern nachstellen. 1906 wurde der letzte in Österreich abgeschossen.
In den Achtzigerjahren startete die Wiederansiedlung in den Alpen - vom österreichischen Nationalpark Hohe Tauern aus. Die Projekte waren sehr erfolgreich. Aktuell gibt es alpenweit wieder etwa 300 Bartgeier. Der LBV will nun die Lücke zwischen den Populationen in den Ostalpen und auf dem Balkan schließen. Wally und Bavaria sind die ersten jungen Bartgeier, die dazu ausgewildert worden sind. Im nächsten Jahr werden drei weitere folgen. So soll es neun Jahre weitergehen. Insgesamt will der LBV bis zu 30 Bartgeier in die Bergwelt entlassen.
Aus Wegscheiders Sicht hätte das Projekt bisher nicht besser laufen können. "Natürlich hatten wir den einen oder anderen bangen Moment", sagt er. Zum Beispiel im Juli während der extremen Regenfälle mit den anschließenden Sturzfluten in der Region, "als Wally und Bavaria komplett durchnässt wurden und beide flugunfähig und ohne Schutz in den Felsen am Knittelhorn kauerten". Oder als sie später immer wieder von einem jungen Steinadler-Weibchen attackiert wurden, das mit den Elterntieren am Hochkalter lebte. "Das waren richtig heftige Luftkämpfe", sagt Wegscheider. "Bei einem hat sich Wally einen sauberen Riss an der Schnabelunterseite zugezogen." Die Narbe, die sie davon zurückbehalten hat, wird Wally wohl ihr Leben lang behalten.
Aber all das spielt längst keine Rolle mehr. Wally und Bavaria sind schon seit einiger Zeit nicht mehr auf die Unterstützung von Wegscheider und seinen Mitarbeitern angewiesen. Die Zäune und die Sicherungsseile an der Auswilderungsnische haben die LBV-Leute abgebaut, die Akkus für die Kameras in ihr und die Futterkraxen sind zurück im Tal und der Beobachtungsstand ist winterfest gemacht worden. Neulich war Wegscheider noch einmal oben, da war alles "verlassen, novembergrau und nasskalt".
Aber dann hat sich Wegscheider plötzlich an einen Vormittag Ende Juli erinnert. "Da war ich auch alleine oben, Wally und Bavaria haben erst kurz zuvor ihre Jungfernflüge absolviert", berichtet er. "Plötzlich höre ich so ein schweres Flap-Flap, ich schau auf, und da kreisen Wally und Bavaria vielleicht 50 Meter über mir in der Luft, zwar noch etwas unbeholfen, aber schon ziemlich sicher." Das war der Moment, in dem Wegscheider auf einmal keinen Zweifel mehr hatte, dass die Auswilderung von Wally und Bavaria ein Erfolg wird.