Die Kuh mit der Nummer 38 540 bewegt sich nicht. Die drei Männer versuchen, das Tier mit einem Seil am Kopf nach vorne zu ziehen. Schlagen ihm in die Flanke. Ziehen am Schwanz. Sie wollen das lahme Tier in einen Transporter verladen, was in der Regel nicht erlaubt ist, weil es selbst laufen können muss. Kann es aber nicht.
Einer der Männer lässt sich einen langen, vermutlich spitzen Gegenstand geben, aus der Ferne einem Schraubenzieher oder einer Feile ähnlich. Er blickt sich noch einmal auf dem Hof um, als wüsste er nur selbst zu gut, dass besser niemand beobachten sollte, was an diesem Anhänger gerade vor sich geht. Er beugt die Knie und rammt den Gegenstand in die rechte Flanke des Tieres. Einmal, zweimal. Die Kuh bewegt sich nicht. Viermal, sechsmal. Die Kuh bewegt sich noch immer nicht. Aber wie sollte sie auch?
Es ist der 26. Mai 2019 und das kranke Tier wird bis zu seinem Tod noch mehr als eine Woche leiden.
Ein Hof im Allgäu, satte Wiesen, schmale Landstraßen. Mehr als hundert Kühe leben dort und der Bauer Walter Honold. Er kümmert sich nicht mehr selbst um seine Tiere, sondern hat seinen Hof in Bad Grönenbach an einen anderen Bauern im Ort verpachtet. An Franz Endres, den manche hier nur "Bossenbauer" nennen und der so viele Kühe besitzt wie sonst kaum ein anderer Milchbauer in Bayern.
Das Geschäft lohnt sich für etliche Bauern nicht mehr, weil der Preis für Milch so niedrig liegt, dass sie nicht einmal ihre Kosten zahlen können - und während die einen aufgeben, werden andere Betriebe wie der von Franz Endres immer größer. 2800 Kühe gehören ihm. In Deutschland besitzt ein Bauer im Schnitt gerade einmal 65 Milchkühe. In Bayern sind es sogar nur um die 40 Tiere. Franz Endres versucht trotzdem das Image eines Familienbetriebes zu wahren. Vor ein paar Jahren sagte er in einem Interview: "Wir sind ein Familienbetrieb in der zehnten Generation - ein Familienbetrieb mit Lohnarbeitskräften."
Der Familienbetrieb allerdings geht mit seinem Vieh nicht so um, wie man sich das ausgerechnet von solch einem Betrieb erwarten würde. Das zeigen umfassende Aufnahmen aus den Ställen, die der Süddeutschen Zeitung sowie den ARD-Politikmagazinen "Report Mainz" und "Fakt" von der Tierrechtsorganisation Soko Tierschutz übergeben wurden. Die Videos belegen, wie einer der größten bayerischen Milchbauern auf seinem Hof seine Tiere quält und sie tagelang leiden lässt - und das, obwohl Behörden den Betrieb regelmäßig kontrollieren.
Die Aufnahmen erstrecken sich über einen Zeitraum von knapp vier Wochen, von Ende Mai bis Ende Juni dieses Jahres. Sie zeigen, wie die Männer die Kuh mit der Nummer 38 540 mit Gewalt in den Anhänger bringen. Der Mann, der die Kuh mit dem langen Gegenstand malträtiert, ist Martin Endres. Der Sohn des Bauern. Er müsste eigentlich wissen, dass verletzte Tiere nach der europäischen Verordnung über den Schutz von Tieren beim Transport nur in Ausnahmefällen verladen werden dürfen. Zum Beispiel, um sie zum Tierarzt zu bringen. Auf keinen Fall aber, wenn sie sich nicht ohne Schmerzen oder ohne Hilfe bewegen können. "Man darf keine Kuh mit Gewalt auf einen Hänger verbringen", sagt Frigga Wirths von der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbundes. Martin Endres und seine Männer verladen die Kuh dennoch.
Minuten nach dem Schuss hebt das Tier noch immer seinen Schwanz
Die Aufnahmen führen einen dann in den Haupthof der Familie Endres nur wenige Kilometer weiter. Aus der Ferne wirken die großen Ställe auf dem Hof in mitten der vielen Wiesen wie eine sonderbare Insel - und von außen kann niemand erahnen, was auf dieser Insel vor sich geht. Das Personal fügt den Tieren Schmerzen zu, reißt die Kühe am Schwanz und an den Ohren und tritt sie mit den Füßen. Die Kühe werden wie leblose Gegenstände von einem Ort zum nächsten geschleift, mit Hilfe von Hüftklammern und Traktoren. Auf einem der Videos ist zu sehen, wie eine Kuh mit zusammengebundenen Beinen an einer Baggerschaufel mit dem Kopf nach unten über ein Gitter gezogen wird. Mit einem Knall schlägt der Kopf auf den Boden auf.
Das Veterinäramt Unterallgäu gibt auf Nachfrage an, dass der Behörde zwei ähnliche Fälle bekannt und zur Anzeige gebracht worden seien. Weder Franz Endres noch Martin Endres wollen sich bislang zu den Vorfällen äußern. Auch die Frage, warum kranke Tiere so lange leiden müssen, bleibt von ihnen unbeantwortet.
Die Bauern sammeln ihre kranken Tiere in einem abgetrennten Bereich eines großen Stalls, was erst einmal noch nicht ungewöhnlich ist. Eine Krankenstation ist dazu da, um Tiere zu pflegen, damit sie sich wieder erholen. Doch Pflege bekommen sie in diesem Stall kaum. Die Aufnahmen zeigen die Kuh mit der Nummer 38 540 auf dem Boden, fast eine Woche, nachdem die Männer sie in den Anhänger geladen haben. Das Tier liegt im Stroh und atmet heftig. Hinter ihm noch eine Kuh, die wie erschlagen auf der Seite liegt, alle Beine von sich gestreckt. Den Kopf nach oben gereckt, die Augen verdreht. Das Tier wird später tot abgeholt werden, während die Kuh mit der Nummer 38 540 noch immer im Stall liegt und versucht, nach vorne zu robben. Versucht auf die Beine zu kommen. Vergeblich.
Die Aufnahmen zeigen den Stall am Tag und in der Nacht. Sie zeigen stark abgemagerte Kühe. Kühe mit offenen Wunden. Kühe, die im Sterben liegen. Auf den Videos ist zu sehen, dass der Familienbetrieb Endres seine Tiere länger leiden lässt, als nötig wäre und vor allem als erlaubt ist. Denn wenn ein Tier so krank ist, dass es sich nicht mehr von alleine fortbewegen kann und keine Chance auf Heilung besteht, muss der Tierarzt kommen, muss die Kuh noch vor Ort eingeschläfert werden. Wenn es sich um leichte, frische Verletzungen handelt, ist es auch erlaubt, das Tier notzuschlachten. Doch in dem Stall von Franz Endres warten Tiere manchmal mehrere Tage auf ihr Ende - und selbst dann leiden sie noch.
Auf einem der Videos ist zu sehen, wie ein Mann im Krankenstall eine Kuh mit einem Bolzenschuss betäubt. Ein solcher Schuss zielt auf das Gehirn des Tieres. Die Kuh ist dadurch allerdings nicht zwingend tot. Es braucht noch einen Schnitt durch die Kehle, das Tier muss ausbluten. Nur dann kann man sich des Todes sicher sein. Doch der Mann auf dem Video durchtrennt die Kehle nicht. Er lässt die Kuh nach dem Schuss liegen und Minuten danach hebt das Tier noch immer seinen Schwanz. "Das Tier ist offensichtlich nicht fachgerecht betäubt. Es reagiert ja noch. Das verstößt eindeutig gegen die bestehenden Gesetze", sagt der Tiermediziner Holger Martens, emeritierter Professor der Freien Universität Berlin, der sich mehrere Szenen für ARD und SZ angesehen hat.
Die Tierrechtsorganisation Soko Tierschutz hat bereits Anzeige gegen den Betrieb von Endres erstattet. Der Gründer des Vereins, Friedrich Mülln, sieht die Vorfälle auf dem Hof als "einen erschütternden Beleg" dafür, dass nach Hühnern und Schweinen die Massentierhaltung nun auch in der Milchindustrie angekommen sei: "Die daraus entstehende Tierquälerei nehmen sowohl die Milchbranche hin als auch die Bevölkerung mit ihrer großen Nachfrage nach Milchprodukten", sagt er. Die Milch vom Hof Endres holt die Käserei Champignon ab. Ein Betrieb aus dem Allgäu, der nach eigenen Angaben in einem Jahr 200 000 Tonnen Milch verarbeitet und seine Produkte in die ganze Welt verkauft. Die Firma stellt zum Beispiel den Ofenkäse der Marke "Rougette" her oder auch den Weichkäse "Cambozola", der in vielen Supermärkten im Regal liegt. Eine Sprecherin der Käserei gibt an, dass man die Vorwürfe intensiv prüfe - sollten sie sich bewahrheiten und sollte sich auf dem Hof dennoch nichts ändern, schließe man eine Kündigung des Lieferanten nicht aus.
Teils scheint Fleisch von Kühen, die im Krankenstall liegen, sogar noch in den Handel zu gelangen: Ein notgeschlachtetes Tier vom Hof Endres wurde Mitte Juni zum Schlachthof des Konzerns Vion in Buchloe gebracht. Das Tier habe einen sogenannten Begleitschein gehabt, heißt es bei Vion. Diesen Schein habe ein Tierarzt ausgestellt und Teile seien "für den menschlichen Verzehr" freigegeben worden. Auf einem der Videos ist zu sehen, wie dasselbe Tier zuvor noch voller Kot im Krankenstall lag.
Auf den Aufnahmen aus den knapp vier Wochen ist auch eine Kontrolle des Veterinäramtes Unterallgäu zu beobachten, diese Besuche sind auf dem Hof keine Seltenheit. Der Betrieb von Endres wird dem Veterinäramt zufolge einmal im Jahr verbindlich kontrolliert, in den vergangenen fünf Jahren habe es zudem zehn unangemeldete Kontrollen gegeben. "Die Kontrollen sind aber immer nur Momentaufnahmen. Wir können bei keinem Betrieb rund um die Uhr vor Ort sein", heißt es vonseiten des Veterinäramts. Der Grund für die spontane Kontrolle am 11. Juni war, dass bei den Behörden kurz zuvor eine anonyme Anzeige eingegangen war. Bei ihrem Besuch stellten die Kontrolleure dann fest, dass die Kühe im Krankenstall zum einen nicht ausreichend verarztet würden und zum anderen zu lange leiden müssten. Der Landwirt habe ein Protokoll bekommen, in dem stehe, bis wann die Missstände endgültig behoben sein müssen, teilt das Veterinäramt mit. Wegen einer kranken Kuh, die nicht unverzüglich geschlachtet wurde, habe man zudem ein Bußgeldverfahren eröffnet. In den vergangenen Jahren wurden schon mehrmals Bußgelder gegen den Hof "wegen Verstößen gegen die Tiergesundheit" verhängt. Nur scheinen sie bislang nicht viel bewirkt zu haben.
Ein Sprecher des bayerischen Vebraucherschutzministeriums lässt am Montag mitteilen, dass man, nachdem man am Freitag durch die Anfrage von SZ und ARD von den Vorwürfen erfahren habe, am gleichen Tag eine unangekündigte Kontrolle angeordnet habe. "Ein grob tierschutzwidriger Umgang des Personals mit den Tieren konnte dabei nicht festgestellt werden." Am Montag habe das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit mit einer weiteren, nicht angekündigten Kontrolle begonnen. Das Ministerium habe die Staatsanwaltschaft eingeschaltet und bei der Regierung von Schwaben einen Sonderbericht über den Betrieb angefordert. Der Verbraucherschutzminister Thorsten Glauber von den Freien Wählern sagte: "Zum ersten Mal in meiner Amtszeit werde ich mit derartig schweren Vorwürfen gegen einen konkreten Betrieb konfrontiert. Der Sachverhalt muss sofort umfassend aufgeklärt werden."
Auf einem Video von Mitte Juni sieht man, wie eine Kuh kalbt und die Arbeiter das Neugeborene nicht aus dem Körper bekommen. Sie lassen die sterbende Kuh schließlich auf dem Boden liegen, das Neugeborene hängt aus dem offenen Rumpf. Dann betäuben sie die Kuh doch noch mit einem Bolzenschuss. Die Kehle aber durchtrennen sie nicht.
Mehr als eine Woche nachdem die Kuh mit der Nummer 38 540 verladen wurde, bekam auch sie einen Bolzenschuss. Aber keinen Schnitt durch die Kehle. Die Kuh hob Minuten danach noch immer den Schwanz.
Die Sendung "Report Mainz" wird am Dienstag, 9. Juli, um 21.45 Uhr in der ARD ausgestrahlt.