SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Brüsseler Spitzen

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Einmal im Jahr ist autofreier Sonntag in Brüssel. Die breiten Straßen im Zentrum gehören dann Radfahrern und Fußgängern. (Foto: Laurie Dieffembacq/dpa)

Die Belgier lieben ihre Autos. Vor allem ihre Hauptstadt erstickt im Stau, Radfahrer trauen sich kaum auf die Straße - außer es ist autofreier Sonntag.

Von Thomas Kirchner, Brüssel und Alexander Mühlauer

Wenn man so will, gibt es in Brüssel nur einen schönen Tag im Jahr: den autofreien Sonntag. Kein Hupen, kein Stress, endlich Ruhe. An diesem wunderbaren Sonntag im September können sich, man glaubt es kaum, sogar Radfahrer auf die Straße trauen. In anderen Städten mag das vielleicht absurd klingen, schließlich fährt ja jeder vernünftige Mensch Rad. In Brüssel tragen vernünftige Radfahrer nicht nur Helm, sondern neongelbe Warnwesten, damit sie nicht über den Haufen gefahren werden. Ja, so ist das hier an normalen Tagen. Herzlich willkommen in der Verkehrshölle.

Die Brüsseler, überhaupt die Belgier, lieben ihre Autos. Deren Zahl im Land nimmt ebenso zu wie die Zahl der mit ihnen gefahrenen Kilometer. Diese Liebe begann mit dem steigenden Wohlstand nach dem Krieg. Da wurden breite Verkehrsachsen gebaut, auf denen die Fahrzeuge seither in hohem Tempo bis kurz vor die Innenstadt rauschen. Dort, auf dem "kleinen Ring", geht es dann sehr viel langsamer weiter. Er ist chronisch blockiert, und neuerdings bröckeln auch die vielen alten Tunnel, die zu erneuern die Stadt versäumt hat. Renoviert wird erst, wenn es nicht mehr anders geht. Im vergangenen Sommer musste bei einem Innenstadt-Tunnel erst ein Betonstück herunterfallen, bevor die zuständige Behörde es für nötig befand, bei einem Ortstermin die Bausubstanz zu begutachten. Erkenntnis der Besichtigung: Die Tunneldecke hatte sich dramatisch abgesenkt. Die Folge: Vollsperrung. Und damit noch längere Staus als ohnehin schon.

"Stell dir vor, ich stand heute eine Stunde auf dem Ring"

Abschreckend wirkt das nicht. Länger denn je stehen die Brüsseler im Stau, als wäre es ein Naturgesetz, mehr als 70 Stunden jährlich, in Europa angeblich nur von den Moskauern und Londonern übertroffen. Auf dem Autobahnring um Brüssel kollabiert der Verkehr so regelmäßig, dass man die Uhr danach stellen kann. Macht aber offenbar nichts, denn, einmal im Büro angekommen, übertreffen sich manche Belgier mit nichts lieber als ihren Stau-Erlebnissen. "Stell dir vor, ich stand heute eine Stunde auf dem Ring", erzählte jüngst eine Mitarbeiterin im Einwohnermeldeamt ihrem Kollegen nicht ohne Stolz. "Das ist ja gar nichts", sagte der, und berichtete über den "totalen Wahnsinn auf der Chaussée de Wavre". Er tat das mit solch glänzenden Augen, die Menschen haben, wenn sie von ihrem letzten Urlaub schwärmen.

Dass die Liebe zum Auto nicht rostet, hat zwei wesentliche Gründe. Der eine, von Beobachtern oft beklagt, ist das Dienstwagenprivileg. Viele erhalten einen Teil ihres Gehalts in Form eines Geschäftsautos, wodurch sie Steuern sparen, sich aber auch an dieses Verkehrsmittel binden, zumal mancher von der Firma noch eine Tankkarte dazu erhält. Die belgische Regierung hat angekündigt, das Privileg zu kippen oder wenigstens durch "Mobilitätsgutscheine" zu ersetzen; dass sie das wirklich wagen wird, glauben die wenigsten.

Der zweite Grund heißt: fehlende Alternative. Das Angebot des öffentlichen Nahverkehrs in Brüssel ist, um es freundlich auszudrücken, ungenügend. Das beginnt bei der Anbindung des Umlands, aus dem sich täglich etwa 200 000 Autopendler in die Stadt ergießen. Seit mehr als 20 Jahren wird an einer S-Bahn gebastelt. Finanzierungsprobleme und die Absprache über Sprach- und Regionsgrenzen hinweg führten zu ständigen Verzögerungen. Um bauen zu können, müssen in der Regel drei Regionen und diverse Gemeinden samt deren jeweiligen Verkehrsbetrieben zustimmen. Inzwischen existieren zwölf Linien, die überwiegend im Stundentakt befahren werden, selten am Wochenende und ohne Verzahnung mit anderen Verkehrsmitteln. Immerhin gibt es seit Kurzem eine schnellere Bahnverbindung zwischen Europaviertel und Airport durch einen neuen Tunnel, zur Freude der EU-Beamten.

Auch bei der U-Bahn fehlen wesentliche Verbindungen. Das Netz besteht aus einem Kreis um die Innenstadt mit Wurmfortsätzen nach Ost und West. Richtung Nordosten ist eine weitere Linie geplant. Ursprünglich sollte sie 2022 stehen; später hieß es 2025, inzwischen 2028. Im Brüsseler Süden wohnen die Reichen, die ohnehin das Auto nehmen. Die U-Bahn ist unverkennbar ein Verkehrsmittel für ärmere Leute und Einwanderer. Es gehört schon Stehvermögen dazu, sich Morgen für Morgen von zusteigenden Bettlern die immer gleichen Musikstücke vortragen zu lassen. Und ein paar neue Waggons könnte die U-Bahn ebenfalls vertragen.

Die Brüsseler U-Bahn hat den Ruf, vor allem ein Verkehrsmittel für ärmere Leute und Einwanderer zu sein. (Foto: S. Steinach/imago)

Auch die Straßenbahn ist nicht mehr zeitgemäß

Das gilt auch für die Straßenbahn, die ihre große Zeit vor Jahrzehnten hatte. Auf vielen Strecken, etwa der wichtigen Ost-West-Linie durch den bunten Stadtteil Ixelles, rattern 45 Jahre alte Fahrzeuge. Man kann das charmant finden, aber ihre Sitze scheinen für Liliputaner geplant worden zu sein, und die schmalen, hoch gelegenen Zugangstüren lassen sich mit Kinderwagen kaum bezwingen - im Grunde kommt man nur mit einem ganz schmalen Buggy durch. Wer ein normales Modell hat, kann die ansonsten wunderbare 81er-Tram vergessen. Allen anderen, die es doch in einen der Waggons schaffen, sei diese Straßenbahn-Strecke sehr empfohlen. Nirgendwo lässt sich die Brüsseler Vielfalt schneller und besser aufsaugen.

Bei den Bussen wiederum, die immer öfter eigene Fahrspuren erhalten, lähmt der flämisch-wallonische Zwist den Verkehrsfluss. So heißt es beispielsweise an der Brüsseler Gemarkungsgrenze zu Vlaams Brabant zentimetergenau umsteigen ins andere System. Eine zeitliche Abstimmung der Busse gibt es nicht, und wer versucht, einen Chauffeur zu fragen, wie es auf der anderen Seite fahrplanmäßig denn weitergeht, scheitert jämmerlich.

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In der Hauptstadt selbst ist es oft nicht besser. Die Region Bruxelles-Capitale besteht aus 19 Gemeinden mit jeweils eigenem Bürgermeister, Gemeindehaus und zugehöriger Verwaltung. Einen Regierenden Bürgermeister wie in Berlin gibt es für die Hauptstadtregion nicht. Das hat einerseits seine Vorteile, weil etwa jede Brüsseler Commune versucht, besonders familienfreundlich zu sein. Oder umliegende Gemeinden mit einem neuen Schwimmbad ausstechen will. Nur: Bei der Verkehrspolitik einer Millionen-Metropole führt die von den Belgiern geliebte föderale Autonomie recht schnell zu Problemen.

Wenn es zum Beispiel schneit, gibt es in den Zeitungen immer dieselben surrealen Bilder: Ein Schneepflug-Fahrer, der an der Grenze der Brüsseler Gemeinden Uccle und Forest einfach umkehrt, weil ihn der Schnee "dort drüben" nichts angeht. Es ist ein Bild, das symbolisch für die Haltung der ganzen Stadt steht. Man kann in Brüssel prima nebeneinanderher leben. Doch wenn es ums Miteinander geht, kann es schwierig werden. Als Lösung aller sprachlichen und kulturellen Probleme hat sich deshalb eine lockere Laisser-faire-Attitüde durchgesetzt, die im Vergleich zum oft rechthaberischen Deutschland wohltuend ist. Nur: Effiziente Organisation ist halt schwierig, wenn sich keiner richtig verantwortlich fühlt. Für die Umleitung einer Buslinie zum Beispiel, wenn mal wieder irgendwo eine Straße aufgerissen wird, ohne dass die zuständige Gemeinde die Verkehrsbetriebe darüber informiert hätte.

Bleibt die Frage: Was ist eigentlich mit dem Fahrrad, weltweit gepriesen als Lösung aller Probleme? Ist und bleibt ein Stiefkind des Brüsseler Verkehrs. Es gibt Tage, da kann es einem passieren, auf dem langen, etwas hügeligen Weg von den stillen Wohngebieten im Osten in die Innenstadt keinem einzigen Mitradler zu begegnen. Wenn doch, tragen sie eine jener hässlichen neongelben Leuchtwesten, die eher von der Abnormalität dieses Verkehrsmittels zeugen als Sicherheit bieten.

Immerhin hat sich einiges verbessert, sieben Prozent aller Verkehrsbewegungen finden per Fahrrad statt. Tendenz steigend. Und es gibt Ausbaupläne. Die neueste Idee lautet, den "kleinen Gürtel" mit Radwegen zu versehen. Doch auch hier fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept. Typisch bleibt die Lage auf der dreispurig befahrenen Rue de la Loi durchs Europaviertel, wo man den Radlern nur wenige Zentimeter auf dem Fußweg gönnt. Belgian Solutions, ein Fotoprojekt des deutschen Künstlers David Helbich, dokumentiert Dutzende hanebüchener Radweg-"Lösungen", die einen, folgte man ihnen ernsthaft, gegen Mauern oder Straßenbahnen prallen ließen. Was immerhin gut funktioniert, ist das Fahrrad-Verleihsystem Villo. 2016 wurden die Räder mit dem gelben Heck mehr als 1,5 Million Mal verliehen.

Eine wahrhaft rühmliche Ausnahme. Nun, warum geht es in Brüssel nicht schneller voran? Vielleicht ist es auch eine Mentalitätsfrage. In einigen flämischen, vor allem von der niederländischen Kultur beeinflussten Städten wie Antwerpen, Gent oder Löwen wird viel fleißiger geradelt. Im laisser-faire getriebenen Brüssel fehlt es zwar nicht an Appellen - an die Politik, an jeden Einzelnen -, endlich umzusteuern. Danach bewegt sich wieder nur wenig. Mais bon. So ist das eben.

© SZ vom 11.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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