Soziologe Heinz Bude über die SPD:"Schröder trägt keine Schuld"

Soziologe Heinz Bude über Gründe des SPD-Fiaskos, den unbewältigten Erfolg der Schröder-Ära und die Chancen einer Renaissance der Sozialdemokratie.

Oliver Das Gupta

Heinz Bude, 55, ist Professor für Soziologie an der Universität Kassel und leitet den Bereich "Die Gesellschaft der Bundesrepublik" am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt "Die Ausgeschlossenen".

Sigmar Gabriel Gerhard Schröder SPD GEtty

Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder im Jahre 2005

(Foto: Foto: Getty)

sueddeutsche.de: Herr Bude, die SPD hat es bei der Bundestagswahl erneut zersaust. Nur noch 23 Prozent der Wähler entscheiden sich für die Sozialdemokraten. Ist das noch eine Volkspartei?

Heinz Bude: Die allgemeine Wahrnehmung ist: Sie müsste eine Volkspartei sein. Viele potentielle SPD-Wähler aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sind bei dieser Wahl zu Hause geblieben. Es gibt sicherlich immer noch einen volksparteilichen Resonanzraum für die SPD.

sueddeutsche.de: Um diese abstinenten Wähler zu mobilisieren, bedarf es einigender Motive und Formeln - fehlen die der SPD?

Bude: Genau das war das Problem. Die SPD hat einen Verhinderungswahlkampf betrieben. Sie hat dafür geworben, zu etwas "nein" zu sagen - es blieb aber unklar, zu was sie eigentlich "ja" sagt. Der Aufstieg von Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hätte der SPD eigentlich zeigen müssen, dass sie völlig falsch liegt. Die Botschaft: Die Deutschen wollen nicht immer sofort auf Staat schalten. Man muss auch darüber nachdenken können, so einen Tanker wie Opel untergehen zu lassen.

sueddeutsche.de: Anfangs witterten die Sozialdemokraten in der Opel-Rettung einen veritablen Wahlkampfkracher à la Irak-Krieg und Kirchhof. Auf der anderen Seite: Hätten die Sozialdemokraten überhaupt anders entscheiden können?

Bude: Warum denn nicht? Spätestens seit den neunziger Jahren ist den Menschen klar, dass es nicht nur ein Markt-, sondern auch ein Staatsversagen gibt. Die SPD hätte dies aufgreifen müssen. Die Sozialdemokraten sollten noch mal bei Lord Keynes nachschauen, übrigens ein Ökonom, der in der Sozialdemokratie seine Heimat hatte. Die alte Wahlkampfformel, mit der Gerhard Schröder 1998 operierte, lautete: Wir brauchen soziale Gerechtigkeit plus gesellschaftliche Innovation. Das war deshalb für die SPD eine sehr gute Formel, weil sie die soziale Gerechtigkeit immer an einem Gegenbegriff messen konnte.

sueddeutsche.de: Ist eine solche Formel für die Zukunft brauchbar?

Bude: Es wird dann außerordentlich problematisch, wenn diese Gegenbegrifflichkeit auseinanderfällt - genauso sieht es derzeit aus. Die soziale Gerechtigkeit bleibt übrig, nur fehlt der Kontrollbegriff, von dem Fragen ausgehen: Ist das wichtig für das gesellschaftliche Ganze, müssen wir nicht auch andere Dinge berücksichtigen? Das ist für die SPD vor allem deshalb problematisch, weil ein Überbietungswettbewerb mit der Linken ins Haus steht.

sueddeutsche.de: Viele Menschen nehmen den Sozialdemokraten längst nicht mehr ab, die Hüterin sozialer Gerechtigkeit zu sein. Ging die Glaubwürdigkeit der SPD während Schröders Kanzlerschaft flöten?

Bude: Die SPD sollte sich daran erinnern, dass sie mit Gerhard Schröder bei der letzten Wahl elf Prozentpunkte mehr als jetzt erhalten hat. Den aktuellen Verlust kann man doch nicht dem Altkanzler zuschreiben. Das Problem ist doch, dass die SPD sich absolut uneins ist, was eigentlich der Erfolg mit Schröder gewesen ist.

sueddeutsche.de: Haben Sie eine Erklärung?

Bude: Schröder hat in der Endphase seiner Kanzlerschaft einmal sinngemäß gesagt: Dieses Kapitel sozialdemokratischer Politik, für das auch Tony Blair und Bill Clinton stehen, sollte man einfügen in die lange Geschichte der Sozialdemokratie. Das bedeutet ja nicht, dass man daran festhalten muss, sondern es als eine Entwicklungsstufe akzeptiert. Das hat in Deutschland nicht wirklich stattgefunden. Eine glaubhafte und nachhaltige Korrektur könnte nur von dem Punkt an entstehen, an dem man die sozialdemokratische Erzählung um das Kapitel Schröder komplettieren würden. Wenn die SPD das versäumen sollte, geriete sie in eine Glaubwürdigkeitsfalle. Sonst gibt es nur die alte Sozialdemokratie.

sueddeutsche.de: Soll heißen: Das Falsche wäre ein Rollback zur SPD vor 1998?

Bude: Absolut.

sueddeutsche.de: Und stattdessen?

Bude: Die SPD hat jetzt die große Chance, den Begriff der sozialen Gerechtigkeit richtig zu besetzen. Die Stärkung sozialer Teilhabe heißt mehr als weg mit Hartz IV. Natürlich muss die SPD klarstellen, wer die Zeche der Krise zu zahlen hat. Was sie aber nicht darf: Eine ihrer Erfolgsgeschichten dementieren.

Die SPD ist die Partei des moralisch sensiblen Bürgertums

sueddeutsche.de: Schröders Ära gilt denkbar wenigen Genossen als Erfolgsgeschichte. Für sie hat der Altkanzler die SPD-Misere verursacht.

Soziologe Heinz Bude über die SPD: Soziologe Heinz Bude

Soziologe Heinz Bude

(Foto: Foto: dpa)

Bude: Diese Einschätzung teile ich ganz und gar nicht. Schröder trägt keine Schuld. Seine Fehler lagen vielleicht in seiner manchmal rüden Basta-Art und der mangelhaften Kommunikation. Aber es ist doch so: Die SPD vor Schröder war die schlimmste sozialdemokratische Partei Europas. Da wollte kein Mensch mehr hingehen. Wenn sich die Sozialdemokratie den individualistischen Tendenzen der achtziger und neunziger Jahre vollends verschlossen hätte, wäre sie schon wesentlich früher eine Unter-25-Prozent-Partei geworden.

sueddeutsche.de: Es gibt Teile der SPD, die das auf Dauer anders sehen werden.

Bude: Stimmt, gerade in den mittleren Kadern der Partei. Die haben den Schröder-Kurs nur hingenommen, weil es halt Erfolg gebracht hat. Allerdings glühten sie dann alle wieder bei Schröders Nein zum Irakkrieg. Die Leute wählen ja eine Partei nicht, weil sie ihren Interessen entspricht, sondern weil sie damit eine gewisse Weltauffassung verbinden können, oder noch genauer: eine bestimmte Alltagsmoral.

sueddeutsche.de: Da hat die SPD nach wie vor Wichtiges zu bieten?

Bude: Es stehen konkurrierende Modelle zur Auswahl. Das hat auch Angela Merkel erkannt. Als sie am Wahlabend beteuerte, sie sei "Kanzlerin aller Deutschen", zeigte sie damit: Macht euch keine Sorgen, wir stellen nicht um auf das Regime einer Alltagsmoral, in der Gier und Nutzenmaximierung dominieren. Die SPD muss die neue Regierung in diese Richtung treiben, um so eine Differenz zu markieren.

sueddeutsche.de: Seit 1998 hat die SPD zehn Millionen Wähler verloren. Ist dieses Potential dauerhaft verloren?

Bude: Es gibt ein strukturelles Problem: Die Krisenbewältigungs- und Kompromissbildungsmodelle der deutschen Politik wie beispielsweise die Sozialpartnerschaft und der Wohlfahrtsstaat, auf die sich die SPD festgelegt hat, hatten ihre Hochphase in der Nachkriegszeit. Sie passen jetzt nicht mehr zu den Formen sozialer Desorganisation. Wenn die SPD es schaffen würde, diese Lücke ideologisch zu schließen, dann hat sie eine große Chance. Die SPD kann eine Renaissance erleben, wenn sie es schafft, den Menschen eine Phantasie vom großen Ganzen zu geben. Sie muss die moralische Autorität wiederfinden.

sueddeutsche.de: Leichter gesagt als getan.

Bude: Wenn es der SPD gelingt, die Dimensionen Gerechtigkeit, Gleichheit und Autonomie in einer politischen Botschaft zu vereinen, bleibt sie keine 23-Prozent-Partei.

sueddeutsche.de: Welches Personal passt zu diesem Neuanfang? Mit Sigmar Gabriel als Parteichef?

Bude: Die SPD braucht auch im Personal einen Schnitt. Sigmar Gabriel hat zumindest eine Ahnung, um was es geht.

sueddeutsche.de: Frank-Walter Steinmeier, der gescheiterte Kanzlerkandidat und Architekt der Agenda 2010, ist nun Fraktionschef - eine clevere Wahl?

Bude: Ich finde, ja. Er steht für den Anschluss an ein Erfolgskapitel der SPD. Steinmeier ist eine Brückenfigur, die von der Partei gebraucht wird. Sein Pendant ist Klaus Wowereit, der in Berlin mit der Linken regiert - dessen Aufstieg wäre die falsche Botschaft. Er propagiert ein wohlfahrtsstaatliches Modell der siebziger Jahre und betreibt eine dezidiert antibürgerliche Politik - beides Dinge, die die SPD überhaupt nicht gebrauchen kann.

sueddeutsche.de: Welche Wählergruppen kommen für die frühere Arbeiterpartei künftig in Betracht?

Bude: Die SPD sollte vom Betonbegriff "Stammwähler" Abschied nehmen. Selbst wenn ARD und ZDF am Wahlabend davon sprachen, dass die SPD ihre Stammwählerschaft verloren habe, ist das natürlich Unsinn. Die Sozialdemokratie sollte vielmehr den Begriff des Stammwählers renovieren. Zu den Zielgruppen gehören die Milieus der moralischen und sozialen Integrität unserer Gesellschaft. Und das geht bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein. Die SPD ist im Grunde die Partei des moralisch sensiblen Bürgertums.

sueddeutsche.de: Von welchen Gruppen sprechen Sie im Speziellen?

Bude: Da sind zum Beispiel die höhergebildeten und erfolgreichen Frauen, aber natürlich auch die Facharbeiterschaft in der exportorientierten Produktivitätsökonomie und die Leute, die im erweiterten Bereich des öffentlichen Dienstes bemerken, dass es mittlerweile auch ein Feld gesellschaftlicher Prekariarisierung geworden ist.

sueddeutsche.de: Derzeit fordern immer mehr Genossen, Projekte wie die "Rente mit 67" oder die Hartz-Reformen, kritisch zu überdenken. Sehen auch Sie in solchen Projekten die Gründe für das Wahldesaster?

Bude: Das ist die große Tendenz in den mittleren Kadern der Partei. Der Glaubwürdigkeit der SPD hilft eine solche Haltung nicht. Die SPD muss die Partei der Moral und des Realismus sein. In der Gesellschaft gibt es ohnehin eine eher positive Stimmung zu Hartz IV, zumindest was seine Grundidee betrifft - aber auch zu Recht Kritik, wenn es um Kontrolle, Gängelung und Härtefälle geht. Man muss an Details wie dem Schonvermögen etwas ändern.

sueddeutsche.de: Kann die SPD künftig eine betont linke Partei sein?

Bude: Sie muss ihr linkes Profil stärken, ohne die Mitte aufzugeben. Die Definition dessen, was "links" ist, darf sie nicht der Linkspartei überlassen. Das ist ein bisschen so wie bei Thomas Mann, der sagte: "Wo ich bin, ist deutsche Kultur." Die SPD muss souverän und glaubhaft feststellen: Wo wir sind, ist links. Alles andere ist Populismus.

sueddeutsche.de: Dennoch träumen viele Genossen von einer Vereinigung von SPD und Linken.

Bude: Dieser Traum wird in der Tat sehr oft in der SPD geträumt. Der Linke-Chef Oskar Lafontaine gibt ja auch entsprechende Signale. Er würde ja am liebsten umjubelt auf einem SPD-Parteitag einziehen und mit großer Geste beide Parteien verquicken - das darf die SPD nicht zulassen. Sie muss die Kraft haben, Lafontaine gegebenenfalls wieder aufzunehmen und ihm einen Platz weit hinten zuzuweisen.

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