Koalition in Klausur:Merkels Operation Erdung

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Die Kanzlerin hat im 24-Stunden-Politik-Camp Meseberg aus einer mühsam zusammengefügten Koalition noch keine verschworene Gemeinschaft gemacht. Familienministerin Giffey gibt eine kluge Richtung vor.

Von Stefan Braun, Meseberg

Über Angela Merkel haben die meisten Menschen ein klares Bild. Nüchtern, abwägend, nachdenklich, manchmal zögerlich, dabei konditionsstark - diese Eigenschaften werden ihr von der großen Mehrheit zugesprochen. Dass sie auch mal sehr lange hocken kann, den Rotwein genießt und in der Nacht bei den Letzten ist, die den Weg ins Bett finden, wissen nur wenige und würden viele für unmöglich halten.

So gesehen hat die alte und neue Regierungschefin ungewöhnliche Wege beschritten, um ihrer Koalition zusätzlichen Kitt zu verleihen. Die Kanzlerin höchstselbst nämlich war es, die in der Nacht von Meseberg als Letzte zum Schlafen aufbrach. Zusammen mit Vizekanzler Olaf Scholz, Arbeitsminister Hubertus Heil und Gesundheitsminister Jens Spahn hatte sie bis drei Uhr früh Wein getrunken, geplaudert, sich ausgetauscht und sehr wahrscheinlich über sehr viel mehr geredet als den neuen Bundeshaushalt.

Kabinettsklausur
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Auf Schloss Meseberg wollen Union und SPD einen gemeinsamen Regierungskurs finden, doch der Start der großen Koalition gerät so zäh wie ihre Bildung. Ausgerechnet CSU-Chef Seehofer rät zur Gelassenheit.

Freundlich sein, menschlich werden, sich über Lebensthemen jenseits der großen Polit-Baustellen austauschen - das ist es, was Merkel anstrebte. Und was ihre Koalition nötig hat, um eine ziemlich neu zusammengewürfelte Mannschaft auf die kommenden dreieinhalb Jahre einzuschwören.

Wie bitter notwendig das ist, hat ausgerechnet der Start dieser neuen Regierung noch einmal bestätigt. Kaum waren die Damen und Herren vor vier Wochen als neue Minister vereidigt, da begannen die besonderen Egoisten im Kabinett, erst mal an sich selbst zu denken.

Der neue Innenminister Horst Seehofer tat das, in dem er nicht einfach sein Team berief und bei seinen Beamten erste Gesetzentwürfe bestellte. Seehofer erklärte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland - und bediente mit der bewussten, antiislamischen Provokation vor allem seine eigenen CSU-Interessen. Ziel war nicht die Förderung des Teamgeists, sondern die Lust, alle anderen aufs Neue zu reizen.

Ganz ähnlich sein CDU-Kollege Jens Spahn. Er gab in den Tagen nach der Ernennung gleich mehrere Interviews, in denen er sich vornehmlich nicht zu seiner Aufgabe als Gesundheitsminister, sondern zu allen möglichen Reizthemen der Konservativen äußerte. Ziel war nicht, dieser Koalition einen guten Anfang zu bescheren; Spahns Ziel war es, seinen neokonservativen Fans zu beweisen, dass auch ein Ministeramt ihn nicht unfrei und ängstlich machen werde.

All das hat das Potenzial, diese Regierung auf Dauer schwierig zu machen. Es zeigt, wie mancher in der neuen Regierung noch immer nicht verstehen oder akzeptieren will, dass mit der AfD und der neuen Verwundbarkeit der Volksparteien ganz anderes ansteht, als in alten Ritualen zu schwelgen.

"Wenig Zeit für anderes"

Die Kanzlerin, der derlei ohnehin fremd ist, hat die abendliche Runde deshalb offenkundig genutzt, um allen ins Bewusstsein zu rufen, wie heikel ihr Verhalten in diesen besonders heiklen Zeiten geworden ist. Ob sie damit Erfolg hatte, werden erst die kommenden Wochen zeigen. Immerhin aber kam am zweiten Tag des Meseberg-Treffens aus allen Ecken die Botschaft, man habe sehr freundlich-friedlich beisammengesessen. Und die Kanzlerin sagte zum Abschluss, alle Mitglieder des Kabinetts seien "sehr entschlossen und sehr freudig". Außerdem hätten alle genügend Arbeit, deshalb bleibe fortan "wenig Zeit für anderes". Das kann man durchaus als Botschaft an Seehofer und Spahn interpretieren.

Offen bleibt, ob das allgemeine Zusammenrücken auch schon zu inhaltlicher Einsicht geführt hat. Jener Einsicht, die in diesen zwei Tagen die neue Familienministerin Franziska Giffey in einfachste Worte gepackt hat. Sie hoffe, dass man den Menschen ab sofort zeige und beweise, dass man sich "deutlich erkennbar um ihre ganz konkreten Anliegen und Sorgen kümmern" werde.

Giffey ist neue Hoffnungsträgerin der Sozialdemokraten. Aber es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass die Berlinerin auch der Kanzlerin sehr gefallen dürfte. Uneitel und den Menschen zugewandt hat sie sich mit frischen Ideen binnen Wochen in den Umfragen große Beliebtheitswerte ergattert.

Giffey steht für eine neue Erdung von Politik - nichts dürfte Merkel besser gefallen. Nichts ist während einer solchen Klausur wichtiger, als genau das bei allen in den Köpfen zu verankern. Merkel sagte es so: Ziel von Meseberg sei gewesen, "sich kennenzulernen und die Arbeitsfähigkeit herzustellen". Vizekanzler Olaf Scholz ergänzte das mit einem Schmunzeln: "Teambildung gelungen, der Rest kommt jetzt."

Nimmt man eine neue Bodenständigkeit in Giffeys Sinne zum Maßstab, dann ist die in Meseberg in der Sache allerdings sehr vage geblieben. Beim Dauerkrisenthema Diesel kündigte Merkel an, erst "die Endauswertung der Gutachten zur Hardware-Nachrüstung abwarten" zu wollen. Und was danach folgen könnte, ließ sie ohnehin offen. Beim Thema Haushalt will Scholz als neuer Finanzminister bis zum 2. Mai beschlussfähig werden. Und zu allen anderen Fragen, darunter auch den zuletzt heftig umstrittenen wie dem Familiennachzug, hatte die Kanzlerin nicht viel mehr zu sagen als die Botschaft, bei allen im Kabinett gebe es den festen Willen, "die Herausforderungen gemeinsam anzunehmen". Merkels Operation Erdung ist recht erfolgreich, aber ziemlich inhaltsfrei ausgefallen.

Und das dürfte noch immer ziemlich viel mit Scholz und seiner SPD zu tun haben. Die Sozialdemokraten nämlich haben in ihrer Neuaufstellung noch immer nicht alle Hürden überwunden. Kaum einer wagt eine sichere Prognose, wie der Sonderparteitag am Sonntag in einer Woche ausgehen könnte. Alle in der Führung hoffen darauf, dass Andrea Nahles weitgehend problemfrei gewählt wird. Aber sie alle wissen auch, dass die weit verbreitete Anti-Berlin-Stimmung noch lange nicht überwunden ist. Und sie ahnen, dass Nahles' Kontrahentin, die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange ziemlich erfolgreich dafür wirbt, die Berliner Machtverteilungspläne noch einmal in Frage zu stellen.

In Meseberg ist Scholz das anzumerken. Vorsichtiger als die Kanzlerin wählt er seine Worte. Und er bleibt in seinen Prognosen zurückhaltender als Merkel. Es habe sich gezeigt, dass diese Regierung konstruktiv und erfolgreich sein könne. Seine Betonung lag auf "könne". Das sagt alles.

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