Deutscher General in Afghanistan:Blauäugig in den Krieg

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Wenige Monate nach den Anschlägen vom 11. September 2001 befiehlt Carl-Hubertus von Butler als erster deutsche Kommandeur auf afghanischem Boden. Soldat war er geworden, um Krieg zu verhindern.

Joachim Käppner

Die Leute im Ort nennen ihre Heimat das "Dorf des Verderbens". Sie zeigen dem General aus Deutschland ihre Gräber. Es ist Frühsommer 2011. All die Toten. Ein Massengrab für die Opfer der sowjetischen Armee, die zehn Jahre im Lande wütete, von 1979 bis 1989.

Januar 2002: Carl-Hubertus von Butler (rechts) war der erste deutsche Kommandant in Afghanistan. Der Einsatz der Isaf, der Nato-geführten Schutztuppe, war auf wenige Monate begrenzt. Dass die Bundeswehr zehn Jahre später immer noch dort ist, hätte niemand gedacht. (Foto: DPA)

Weitere Gräber für die Opfer des langen afghanischen Bürgerkriegs, der dem Abzug der Russen folgte, bis die Taliban ab 1996 die Macht an sich rissen. Die Menschen im Dorf glaubten, die frommen Koranschüler würden endlich den Frieden bringen, den sie versprochen hatten. Doch sie brachten nur neue Gräber. Und sie trugen den Krieg hinaus in die Welt und bis nach Amerika.

2001 schlug Amerika hart zurück, die Taliban starben oder flohen. Fünf, sechs Jahre später kamen sie heimlich zurück. Wieder gab es Gräber. Die Soldaten aus dem Westen, die den Gotteskriegern folgten, sind noch dort. Aber den Frieden haben auch sie nicht gebracht.

Immerhin sitzt Carl-Hubertus von Butler auf einem Teppich mit den Dorfältesten, umringt von Dutzenden neugierigen Dorfbewohnern. Wieder einmal haben die Herren gewechselt. Die Taliban waren zurückgekommen, ihnen gehörten viele Dörfer der Provinz, ihnen gehörte die Nacht. 2010 hat die Nato sie im Norden großteils verjagt, "aus der Fläche", wie die Soldaten sagen. Im Untergrund gibt es sie noch. Sie legen Minen, schicken Selbstmordattentäter in Moscheen, ihre Waffe ist der Terror.

Spät, gar zu spät stellt die Nato die Bevölkerung in den Mittelpunkt

Aber im Dorf des Verderbens sind sie nicht mehr. Das Dorf hat die Fronten gewechselt, wie so oft in Afghanistan, aus der in Jahrhunderten erlernten Kunst des Überlebens heraus. Butler, der Generalleutnant, genießt das Gespräch mit den Bewohnern. Es wäre, noch vor zwei Jahren, unmöglich gewesen. Die Alten berichten von ihren Sorgen. Das Dorf braucht alles: Strom, Wasser, Medikamente. Und Butler ist nicht nur aus Höflichkeit dort.

Spät, aus Sicht vieler Experten sehr oder gar zu spät, hat die Nato begonnen, die Bevölkerung der Unruhegebiete in den Mittelpunkt ihrer Strategie zu stellen. Dörfer, einmal befriedet, werden nun gehalten, von afghanischen Soldaten und notfalls mit Hilfe der Deutschen. Die Menschen sollen spüren, dass sich etwas wandelt im Land. Und der Offizier aus dem fernen Deutschland erinnert sich bei dieser Begegnung daran, wie lange schon er mit diesem Land verbunden ist und wie sehr es sein Leben als Soldat verändert hat.

Carl-Hubertus von Butler war der erste deutsche Kommandant, der seinen Fuß auf afghanischen Boden setzte - gleich zu Beginn des Jahres 2002. Das Mandat für den Einsatz der Isaf, der Nato-geführten Afghanistan-Schutztruppe, war auf wenige Monate begrenzt. Niemand, auch Butler nicht, hätte es damals für möglich gehalten, dass die Bundeswehr geschlagene zehn Jahre später noch immer im Land sein würde, und zwar in einer wesentlich prekäreren Lage als im Jahr 2002.

Damals hatten die Special Forces und die Luftwaffe der Amerikaner sowie die in der "Nordallianz" verbündeten afghanischen Talibangegner das Terrorregime der Islamisten in kürzester Zeit geschlagen. Alle waren überrascht, auch Butler.

"Wir waren naiv", sagt er heute, "wir haben die Gefahren und Risiken unterschätzt. Und wir glaubten, Afghanistan ließe sich nach der Befreiung von den Taliban in eine Demokratie nach westlichem Muster verwandeln. Es war ein Ziel, das viel zu hoch gesteckt war und das wir nicht erreicht haben, auch nach zehn Jahren nicht." Die Nato ist an dieser Aufgabe gescheitert. Heute, sagt Butler, "heute weiß ich, wie blauäugig ich damals war."

Butler, Familienvater, geboren 1950, stammt aus einer alten Soldatenfamilie; einer Adelssippe, die schon 1170 genannt wird, als ein Ritter namens Hartnidus de Butiller eine Urkunde des Landgrafen von Thüringen bezeugt. Butlers Onkel und Vater dienten noch in der Wehrmacht.

Er gehörte zu den ersten Jahrgängen, die nichts anderes kannten als das Konzept vom "Staatsbürger in Uniform". Das Soldatentum sollte nicht länger eine abgeschlossene Welt sein, kein sich selbst genügender Kosmos jenseits der Gesellschaft mehr. Für seinen Vater und seinen Onkel war das eine innere Erlösung, beide wurden hohe Generäle der Bundeswehr. Oft hat der Jüngere mit ihnen über Schuld und Unschuld der Truppe während des Weltkriegs gesprochen.

Der Mann aus der alten Soldatenfamilie studierte Soziologie

Und damit der Bürger Butler den Staat und seine Demokratie besser verstehen lernte, studierte er 1974 Soziologie an der Münchner Universität, erstaunt beäugt von seinen revolutionär gesonnenen Kommilitonen. Aber er hat viel gelernt - ein Fallschirmjäger, der Kants Morallehre bewundert und überzeugt ist, auch das moderne Militär bedürfe einer moralischen Fundierung, einer festen Werteordnung.

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind für ihn Teil dieses moralischen Auftrags. Menschen, denen das Militär suspekt ist, tun sich schwer mit solchem Denken. Für Butler ist es ganz selbstverständlich. Das Militär, das er kannte, ist nicht mehr dazu ausgebildet oder beauftragt worden, die Welt unter seine Schaftstiefel zu treten. Im Gegenteil. Es soll die Werte des Westens verteidigen, ob in Bosnien oder Kosovo - oder, als Reaktion auf 9/11, am Hindukusch.

Flughafen Bagram, 11. Januar 2002. Ein Kind steht an der Ausfahrt, blanke Füße auf gefrorenem Boden. Es winkt ihnen zu. Willkommen in Afghanistan. Auf den Bergen liegt Schnee. In Kabul, der zerschossenen Hauptstadt des Landes, richten sich die Deutschen in einem verlassenen Bauhof ein, sie nennen ihn "Camp Warehouse".

Später einmal wird das Camp eine kleine, nach deutschen DIN-Normen errichtete Stadt für die Soldaten sein. Aber nicht jetzt. Zwischen Fahrzeugwracks schlagen sie ihre Zelte auf. Und Carl-Hubertus von Butler, der Chef, hat in Sachen Truppenbetreuung nicht seinen besten Tag, als er einem Reporter erklärt: "Kaltes Duschen bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt ist dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Truppe, unabhängig vom Dienstgrad, nur zuträglich."

Mehr Sorgen als um warmes Wasser macht er sich allerdings um die Meldung der Geheimdienste, die gleich in den ersten Tagen eingeht. In der Stadt Dschalalabad habe sich ein unidentifizierter Lastwagen voller Sprengstoff auf den Weg nach Kabul gemacht, mögliches Ziel: das deutsche Camp. Butler lässt das Lager sofort evakuieren. Aber der Wagen kommt nicht. Camp Warehouse wird mit einem Graben und tonnenschweren Sandsackwällen befestigt, gleich einem römischen Legionslager in den Ländern der Barbaren.

Nur dass die Legionäre Eroberer waren. Carl-Hubertus von Butler aber war gar nicht nach Afghanistan gekommen, um Krieg zu führen.

Damals dachten die Deutschen, der Krieg sei vorüber, zumindest bei ihnen im Norden des Landes. Ihre Aufgabe sei es, den Frieden zu bewachen. Die Soldaten fahren auf offenen Lastwagen durch Kabul, Butler selbst begleitet afghanische Polizisten auf Nachtstreife. Er besucht ohne Zwischenfälle örtliche Würdenträger, Warlords, Polizeichefs. Und er spürt, wie schwer es sein wird, in diesem Geflecht aus alten Konflikten, Machtansprüchen, Korruption, Patronage und Kriminalität jenes nation building zu betreiben, das die Soldaten hier absichern sollen. Als Butler nach einem halben Jahr geht, hat er keinen einzigen Mann durch Gefechte oder Terroranschläge verloren.

Der Krieg galt als beendet, doch Soldaten sterben

Dennoch ist er der erste deutsche Kommandeur, der Särge mit toten Soldaten aus Afghanistan nach Hause begleitet, Opfer eines Unfalls beim Entschärfen alter Raketen, der Hinterlassenschaft des Krieges, der doch als beendet galt. Und zum ersten Mal treten die Männer am Hindukusch zu einem Gedenkappell an. Butler spricht, die Wolken hängen tief. "Unsere Kameraden", sagt er, "sind hier gewesen, um den Menschen, die hier in große Not geraten sind, zu helfen. Sie sind hier gewesen, um dem Frieden zu dienen."

Aber dann ist der Krieg zurückgekommen.

Butler bemerkt es sehr bald. Im November 2003 ernennt Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) ihn zum Nachfolger des irrlichternden Reinhard Günzel, des Kommandeurs der Bundeswehr-Elitetruppe KSK, der den antisemitischen Tiraden des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann Beifall gezollt hatte. Struck wirft Günzel sofort hinaus, dann braucht er einen Nachfolger mit natürlicher Autorität - und mit konkreter Einsatzerfahrung in Afghanistan. "Es kam dann eigentlich aus der Generalität nur Carl-Hubertus von Butler in Frage", sagt Struck später. Das Kommando geht sehr schnell in, wie Butler sagt, "sehr fordernde Einsätze" an der Seite von US Special Forces in den Bergen Afghanistans über. Dieser Krieg ist noch lange nicht vorüber.

2006 übernimmt die Bundeswehr die Führung im Raum Kundus, und so ruhig ist es hier im Norden, dass bald das Wort von "Bad Kundus" die Runde machte. Im Osten und Süden führen Amerikaner, Briten und Kanadier einen mörderischen Guerillakrieg gegen die Taliban und andere Insurgentengruppen, mit teuer erkauften Erfolgen und hohen Verlusten. In Kundus steigt Butler mit wenigen Begleitern in einen offenen Jeep und macht sich ein Bild von der Lage.

Das friedliche Bild, das sie gewonnen haben, ist nicht von Dauer. Die Deutschen und die Nato haben den Gegner unterschätzt, ihre Aufklärung erkennt die Gefahr viel zu spät. Butler ist inzwischen befördert worden, er ist jetzt Kommandeur der Division Luftbewegliche Divisionen mit Sitz in Veitshöchheim. Afghanistan lässt ihn nicht los, und der Posten bringt es mit sich, dass er das Land wieder und wieder besucht. Und von Mal zu Mal sieht es schlechter aus im Norden, dem deutschen Verantwortungsbereich.

Soldaten fallen im Kampf, ihr Feldlager wird mit Raketen beschossen. Und sie verlieren die Kontrolle. Hunderte Untergrundkämpfer sind in die Provinzen eingesickert, vor allem Kundus gilt als Hotspot. Und die Soldaten, Teil einer Streitmacht, die dem stärksten Militärbündnis der Geschichte angehört, sind für den Krieg, der in Deutschland nicht so heißen darf, nicht wirklich gerüstet. Sie sind zu leicht bewaffnet für das, was sie nun erwartet.

Es war zeitweilig so", sagt Butler, "dass die Fähigkeiten der anderen Seite den unseren nicht nachstanden. Im Klartext: Auch die Aufständischen hatten Maschinengewehre und Panzerabwehrwaffen." In dieser Phase "konnte sich die Bundeswehr", schreibt Jan Meyer, der heutige Sprecher des Bundeswehrverbandes, in dem Buch Ruhet in Frieden, Soldaten! (Fackelträger Verlag 2010, mit Julian Reichelt), "kaum selber schützen".

Er wollte den Krieg verhindern, jetzt muss er Krieg führen

Carl-Hubertus von Butler gehört zu den Generälen, die auf eine stärkere Bewaffnung der Truppe dringen. Das alles ist langsam, zu langsam und zu wenig für viele Soldaten, die am Hindukusch ihren Kopf riskieren. Aber Marder-Schützenpanzer treffen ein, schwere Artillerie, besser gesicherte Fahrzeuge, Bordwaffen mit höherer Durchschlagskraft. Für die Zivilgesellschaft daheim, jedenfalls große Teile von ihr, sind das gruselige Debatten. Für die Soldaten in Nordafghanistan sind es Fragen, die womöglich über Leben und Tod entscheiden.

Butler ist Soldat geworden, um den Krieg zu verhindern. Den Krieg, den sein Vater 1945 als blutjunger Panzersoldat an der Ostfront noch erlebt hat, den Krieg, der niemals wiederkommen soll. Jetzt gehört er, nach einer steilen Karriere, zu den Generälen einer Armee, die Krieg führen muss, auch wenn er so ganz anders ist als der des Vaters. Und auch wenn man das in Deutschland ungern so nennt.

Mit David Petraeus, dem neuen Isaf-Kommandeur und heutigen CIA-Chef, kommt 2010 die Wende. Er greift auf Erfahrungen aus Irak zurück, aus jenem unseligen Krieg, der in vielerlei Hinsicht ein Fehler war - auch deshalb, weil der Kampf gegen die Taliban und die al-Qaida am Hindukusch zum Nebengefecht wurde, mit bösen Folgen. Aber Petraeus hat dort, in Irak, viel gelernt. Auch Butler, inzwischen Chef des Heeresführungskommandos in Koblenz, ist bei seinen Besuchen beeindruckt: "Die neue Strategie stellt die Zivilisten in den Mittelpunkt", sagt er, "ihnen muss man helfen und sie gewinnen. Dabei ist das Militär nur ein Teil neben dem zivilen Aufbau."

Die Nato ergreift, zusammen mit den afghanischen Kräften, die Initiative, Tausende Amerikaner werden in den Norden verlegt, Taliban-Kommandeure systematisch gejagt. "Die Lage hat sich seither dramatisch gebessert", sagt Butler. Er selbst hat es 2010 noch erlebt, dass ihn Soldaten auf einem Gefechtsstand in der berüchtigten Region um Isa Khel warnten: "Kopf einziehen, Herr General, wir müssen aus dem Dorf dort mit Mörserfeuer rechnen!" Heute befindet sich das Dorf in der Hand der afghanischen Regierungstruppen, und Mörser werden nicht mehr abgeschossen. Vorerst nicht.

Denn der Krieg mag manche Ziele nicht erreicht haben, er hat aber auch nicht alle verfehlt. "Er ist keineswegs verloren", sagt Butler. In der Bundeswehr gibt es viele Soldaten, die gerade jetzt über die Abzugsdebatte fluchen. Sie fürchten, wenn die westlichen Soldaten gehen, könne das Land in sich zusammenfallen. Butler lässt sich, als loyaler Berufssoldat, nicht auf öffentliche Debatten um Abzugstermine ein. Aber er ist nicht pessimistisch. Irgendwann wird die Bundeswehr gehen müssen. "So wenig Zeit bleibt uns doch gar nicht", sagt er, "der Aufbau der afghanischen Armee macht mit unserer Hilfe große Fortschritte. Das Land muss sich irgendwann aus eigener Kraft halten können."

Viel wurde erreicht. Das Islamistenregime, das die Al-Qaida-Terroristen nährte und ihnen den einzig sicheren Hafen auf dem Globus bot, unter dessen Schutz die Anschläge des 11. September 2001 ausgebrütet und vorbereitet wurden - das alles gibt es nicht mehr. "Und das darf von dieser Region auch nie wieder ausgehen", sagt Butler, "sonst wäre alles, was wir getan haben, umsonst gewesen."

© SZ vom 10.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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