Westend:Wie eine Trauertänzerin Verstorbene zum Leben erweckt

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Helga Seewann, hier bei ihrem Tanz für NSU-Opfer Theodoros Boulgarides, sieht sich bei der Trauerfeier als "bewegendes Objekt und Projektionsfläche". (Foto: Peter Neusser)

Sie bietet eine ungewöhnliche Zeremonie für Hinterbliebene an. Helga Seewanns Tanz ist Ausdruck der Geschichten, die Angehörige über ihre Toten erzählen.

Interview von Andrea Schlaier, Westend

Nur Kerzenlicht erhellt an diesem Sonntagabend den Raum vor dem Altar von St. Paul. Für zehn Minuten steht der Gottesdienst still. Wasser plätschert leise vom Band, Vögel zwitschern. Eine zarte Frau, ganz in Schwarz gekleidet, das rote Haar zu einem schlichten Zopf geflochten, tritt in den warmen Schein, schreitet mit schnellem Schritt einen imaginären Kreis ab. Ganz sachte erklingt eine orientalische Melodie; sie begleitet die Frau bei ihrem Tanz für einen Toten, für Theodoros Boulgarides. Der Ladenbesitzer wurde in seinem Geschäft im Westend von den Mitgliedern der rechtsterroristischen NSU 2005 ermordet. Ihm zu Ehren zelebrierte Helga Seewann innerhalb der Kunstreihe "Westendstudios 14" vor großem Publikum ihre Kunst, die sie sonst hauptsächlich bei privaten Abschiedsfeiern von Familien zeigt: Die 58-Jährige ist Trauertänzerin. Ein Gespräch über diese besondere Art, eines Verstorbenen zu gedenken.

SZ: Frau Seewann, wie kommt eine ausgebildete Tänzerin wie Sie dazu, ihre Kunst ausgerechnet bei Beerdigungen vorzutragen?

Helga Seewann: Das fängt damit an, dass ich meine Mutter im Alter von 30 Jahren verloren habe. Ich bin aus dem Krankenhaus raus und direkt ins gegenüberliegende Beerdigungsinstitut gelaufen. In der Schockstarre des Verlusts ist man oft gar nicht handlungsfähig. Es wurde eine traurige, weil unpersönliche Beerdigung. Teuer, aber schrecklich. Es war schlicht nicht zu ertragen.

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Und den Groll haben Sie sich dann von der Seele getanzt?

Nein, ich habe nach dem Tod meiner Mutter Kurse in Apulien gegeben. Dort bin ich einmal alleine an einer Kapelle vorbeigekommen, hineingegangen und habe im Nachhinein für sie getanzt. Ich habe gleich gemerkt: Das kann ich.

Den Tod der eigenen Mutter tänzerisch zu bewältigen ist das eine. Aber es auch als Dienstleistung für fremde Hinterbliebene anzubieten, ist doch eine ganz andere Geschichte.

Ich persönlich bin zwischen Buß- und Bettag und Totensonntag geboren, an meinem Geburtstag wurde John F. Kennedy erschossen. Meine Mutter war eine schwerkranke Frau. Tod war in meinem Leben immer ein Thema. Ich hab mich viel damit beschäftigt und finde, es darf wieder andere Arten von Trauerritualen geben.

Wer bucht Sie für die Trauerfeier seiner Angehörigen?

Mutige Menschen. Sie wollen einen anderen Weg gehen. Söhne und Töchter, die ihre Eltern sehr geliebt haben, oder Hinterbliebene, die ihre Lebenspartner verloren haben und ihnen für ihr Leben danken und noch ein letztes Fest für sie ausrichten wollen. Manchmal auch Künstler.

Wie viel hat ihr Trauertanz mit dem jeweiligen Toten zu tun?

Ich rede mit den Angehörigen, bin oft bei der Besprechung der ganzen Trauerfeier dabei, schaue mir Bilder des Verstorbenen an und höre Geschichten aus seinem Leben und wie über ihn gesprochen wird. Und so taste ich mich vor. Bei der Trauerfeier gebe ich mich als bewegendes Objekt und Projektionsfläche, das all das aufnimmt und in seinen Tanz einbindet. Ich bin auch Choreografin und bespreche mit der Familie, welche Musik passen könnte. Auf die lasse ich mich ein und entwickle meinen Tanz.

Wie muss man sich die Tanz-Performance in einer Aussegnungshalle dann vorstellen?

Es dauert in der Regel zehn Minuten, ich tanze introvertiert und nehme mich zurück. Das einzige, immer wiederkehrende Element in meinen Trauertänzen ist ein sich öffnender und schließender Kreis. Trauerende haben mir im Nachhinein immer wieder erzählt, dass sie sich während des Tanzes das erste Mal entspannt und wieder einmal richtig durchgeatmet hätten. Manchmal erkenne ich auch einen heilenden Aspekt, weil ich merke, der Zugang zur Mutter oder zum Vater braucht Bewegung, Energie. Vielleicht war etwas kaputt oder nicht geklärt.

Wie fallen die Reaktionen auf dieses ungewöhnliche Zeremoniell aus?

Positiv. Selbst bei Pfarrern, die anfangs vielleicht etwas skeptisch waren. Im Nachhinein half auch der Pauls-Kirchen-Gottesdienst für Theodoros Boulgarides bei der Akzeptanz.

Warum wollten Sie das NSU-Opfer aus dem Westend auf diese Weise ehren?

Die rechtsextreme Hauptangeklagte war stündlich in den Nachrichten und hier um die Ecke wurde jemand erschossen und keiner kannte seinen Namen. Deshalb haben wir Theodoros Boulgarides das künstlerische Programm der "Westendstudios 14" zweieinhalb Tage lang gewidmet.

Trauertanz ist neben zeitgenössischem Tanz und künstlerischen Bewegungsprojekten nur eine Ihrer professionellen Disziplinen. In der sind Sie am Samstag, 5. November, um 18.30 Uhr innerhalb der Kunstreihe "Laborarium" in St. Rupert am Gollierplatz zu sehen. Was erwartet die Besucher?

Es geht um Hand und Hände, im spirituellen Kontext, wenn man so will. Die Besucher werden von mir zum Mitmachen animiert. Ein Theologe moderiert. "Ascending Voices" machen dazu experimentelle Musik und einen Trauertanz von mir gibt es dann auch. Es wird spannend.

© SZ vom 31.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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