Trauer ist Widerstand gegen das Verschwinden; Friedhöfe sind Orte des Widerstands gegen den Tod. Sie bewahren das Leben des Toten, indem dort seiner gedacht wird. Zugleich sind Friedhöfe auch Symbole dafür, dass der Tod zum Leben und ins Leben gehört: Das Leben lässt sich stören durch den Tod und seine Präsenz. Das bestimmte lange Zeit die Dialektik des Trauerns: Widerstand und schmerzhaftes Einverständnis.
Wer an Allerheiligen, Allerseelen oder am Totensonntag, wer an den klassischen November-Gedenktagen auf den Friedhof geht, der mag sich fragen, ob das noch stimmt. Vor den Gräbern stehen viel weniger Menschen als früher; immer mehr Gräber sind anonym.
Stimmt es noch, dass das Leben sich stören lässt durch den Tod? Ist die Anonymisierung des Todes, die ja häufig dem Wunsch der Verstorbenen entspricht, Ausdruck der Sorge, dass sie stören könnten?
Die Totenehrung wird kleiner, wenn sie den Alltag nicht mehr stören darf
Kürzlich gab es Erregung in der Lokalpresse von Münster darüber, dass es dort keine Beerdigungen an Samstagen gebe. Das führe zu Arbeitsausfall; wo bleibe die Kundenorientiertheit? Die Totenehrung an Samstagen wäre "viel größer", weil man sich nicht freinehmen müsse. Größer? Falsch. Die Totenehrung wird kleiner, wenn sie den Ablauf des Alltags, Urlaubspläne oder Arbeitszeiten nicht mehr stören darf. Früher wurden die Uhren angehalten, wenn einer starb.
Man kann sich fragen, ob der Widerstand gegen den Tod schwächer geworden ist, weil die Friedhöfe nicht mehr so sichtbar sind, seitdem sie aus der Mitte der Städte verschwunden sind. Die alten Friedhöfe sind zu Freiluftmuseen geworden. Die neueren Friedhöfe liegen an den Peripherien. Die ganz neuen Friedhöfe sind als solche kaum noch erkennbar: Es handelt sich um Friedwälder; an den Menschen, der dort sein Wurzelgrab hat, erinnert, wenn überhaupt, nur ein Holztäfelchen am Baum.
Ist der Widerstand gegen das Verschwinden kleiner geworden? Hat das damit zu tun, dass die Menschen länger leben und die Trauer kürzer wird?
In Argentinien ist es für die Angehörigen von "Verschwundenen" wichtig, deren Überreste zu finden und zu bestatten. Die Menschen, die in Folterkellern zu Nummern wurden, sollen ihren Namen wiederhaben, und die Trauer um sie soll einen Ort haben. Es geht um Ent-Anonymisierung. Ist es verrückt, wenn bei uns der Tod anonym wird?
"Unsere Gesellschaft" verdränge den Tod, heißt es. Nein, das stimmt so apodiktisch nicht. Das Sterben der alten Friedhöfe und Rituale sagt etwas über das Sterben der festgefügten Gesellschaft und schwächer werdende Bindungen an Religion. Es sagt auch etwas über das Diktat des Ökonomischen über das Leben und den Tod: Die alten Friedhöfe wurden stillgelegt, weil die Kommunen Personal und Pflege vieler dezentraler Friedhöfe nicht mehr finanzieren konnten.
"Die" Gesellschaft gibt es nicht mehr; deswegen gibt es auch nicht mehr "die" Bestattung
Viele Menschen leben heute als Single, viele in Patchwork-Konstellationen, viele mobil und unstet. Das fördert den Trend zur anonymen, kostengünstigen Bestattung. Aber auch so ist der Ort der Toten ein Spiegel der Gesellschaft. Die anonyme Bestattung ist vielleicht das finale Symbol einer Migrationsgesellschaft, die im Tod Wurzeln sucht: die der Bäume.
"Die" Gesellschaft gibt es nicht mehr; deswegen gibt es auch nicht mehr "die" Bestattung. Es gibt die Suche nach neuen Formen und Ritualen - mit gegenläufigen Tendenzen; Anonymisierung und Individualisierung. Die Menschen des 21. Jahrhunderts haben die Antwort darauf noch nicht gefunden, wie viel Raum sie dem Tod geben und wie viel Widerstand sie ihm leisten wollen. Die Antwort gibt heute zunächst einmal jeder für sich.