Der Mensch baut nicht nur die Erde zu, sondern auch gleich noch den Himmel: Hochhäuser, Windräder und Stromtrassen sind Bedrohungen, auf die die Evolution Vögel nicht vorbereitet hat. Die Tiere erkennen die Gefahr nicht, kollidieren und sterben.
Oberirdisch verlegte Stromkabel sind aber noch aus einem anderen Grund gefährlich für Vögel. Die Tiere halten sie für einen guten Aussichts-, Sammel- oder gar Nistplatz, fliegen sie gezielt an und bekommen einen tödlichen Stromschlag, sobald sie zwei unter Spannung stehende Teile gleichzeitig berühren.
Speziell in den USA bergen Stromtrassen für Vögel anscheinend aber noch eine dritte, bisher unbekannte Gefahr: Tiere, die dort sitzen, geben eine ideale Zielscheibe für Wilderer ab. Nach einer Studie, die gerade im Wissenschaftsjournal iScience erschienen ist, haben Vögel, die auf Stromleitungen sitzen, ein viel höheres Risiko, abgeschossen zu werden, als einen tödlichen Stromschlag zu bekommen.
Bis jetzt sind Wissenschaftler und Vogelschützer in der Regel davon ausgegangen, dass die meisten Tiere, die tot in der Nähe von Stromleitungen gefunden werden, den "Stromtod" gestorben sind. Dass sie also einen Kurzschluss ausgelöst haben, weil sie zwei Drähte mit unterschiedlicher Spannung gleichzeitig berührt haben. Oder - was häufiger vorkommt - einen sogenannten Erdschluss durch die gleichzeitige Berührung eines Masts und einer Leitung. Besonders gefährdet sind große Arten wie Störche, Uhus oder Adler. Meist passiert es beim Starten oder Landen, wenn die Tiere ihre Flügel ausgebreitet haben.
Zumindest im Westen der Vereinigten Staaten scheint das - anders als bisher angenommen - aber gar nicht die häufigste Todesursache geschützter Vogelarten entlang von Stromtrassen zu sein. Dreimal so oft wie durch einen Stromschlag sterben Vögel auf Stromleitungen, weil sie von Menschen abgeschossen werden, schreibt das Team um die Biologin Eve Thomason von der US-amerikanischen Boise State University in der aktuellen Untersuchung. "Diese Ergebnisse zeigen, dass der illegale Abschuss von Vögeln auf Stromtrassen viel häufiger ist und eine viel größere Bedrohung darstellt, als wir bisher dachten", sagt Todd Katzner vom United States Geological Survey (USGS), laut einer Pressemitteilung der wissenschaftlichen Behörde, die zum amerikanischen Innenministerium gehört.
Eve Thomason hatte Verdacht geschöpft, als sie für ein Energieunternehmen beurteilen sollte, wie gefährlich die Stromleitungen der Firma für Vögel sind. Damals fand die Wissenschaftlerin viele tote Tiere auch unter Trassen, die eigentlich als vogelsicher galten - etwa weil sie so konstruiert waren, dass es für die Tiere keine Sitzmöglichkeit in der Nähe von Bauteilen gab, die unter Spannung standen. Als sie die toten Tiere genauer untersuchte, stellte sie fest, dass viele von ihnen Schusswunden hatten.
Werden die geschützten Vögel aus Spaß abgeschossen?
Um das Phänomen in einem unabhängigen Forschungsprojekt genauer zu untersuchen, inspizierte die Wissenschaftlerin mit ihrem Team vier Jahre lang oberirdische Stromtrassen in den Bundesstaaten Wyoming, Idaho, Utah und Oregon. Auf einer Strecke von insgesamt 196 Kilometern fanden die Forschenden 410 Vogelkadaver. "Bei vielen handelte es sich um geschützte Arten", heißt es in der Mitteilung des USGS.
Alle Funde wurden genau untersucht und geröntgt, um die Todesursache festzustellen, was bei 175 Kadavern gelang. "An allen untersuchten Standorten war Erschießen die häufigste Todesursache", schreiben die Forschenden in ihrer Studie - einzige Ausnahme war der Nationalpark Seedskadee in Wyoming. Im Schnitt wurden 66 Prozent der Vögel erschossen. Nur 17 Prozent wurden durch einen Stromschlag getötet, der Rest starb aus anderen Gründen. Durch die Röntgenanalyse, die die Kugeln in den Körpern der Tiere sichtbar macht, wurde auch klar, dass einige der Vögel, die man auf den ersten Blick für Stromschlagopfer gehalten hatte, weil sie die typischen Verbrennungen aufwiesen, in Wahrheit erschossen worden sind. Die Forscher gehen in diesen Fällen davon aus, dass die Opfer beim Absturz in Kontakt mit den Stromleitungen gekommen waren.
Warum die Vögel abgeschossen werden, wissen die Studienautoren nicht. Ist es aus Spaß? Oder weil Menschen in ihnen eine Bedrohung für ihre Haustiere sehen? Klar ist nur eines: Das Ausmaß dieses bisher vollkommen unterschätzten Phänomens ist so groß, dass es die Zahl geschützter Vögel deutlich dezimieren könnte.