Gutachterstreit um Anders Behring Breivik:Verrückt oder böse?

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Schon nach dem ersten Tag im Prozess gegen Anders Behring Breivik wird deutlich, worauf alles hinauslaufen wird: Welches psychiatrische Gutachten hat recht? Das erste, das den Attentäter für schizophren erklärte? Oder das zweite, gegenteilige, das ihm strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit bescheinigt? Was wie ein Streit zwischen Psychiatern klingt, weist auf ein Problem der Justiz im Umgang mit Geistesgestörten und seelisch Kranken hin.

Markus C. Schulte von Drach

Mad or bad - verrückt oder böse? Auf diese Frage scheint sich die Diskussion um den Geisteszustand des Massenmörders Anders Behring Breivik zuzuspitzen. Während zwei erste Gutachter bei dem Attentäter im vergangenen Jahr eine paranoide Schizophrenie diagnostizierten, kamen zwei andere Experten kürzlich zu dem Schluss, es gebe keine Anzeichen für eine Psychose. Breivik sei zwar gefährlich, aber er verstehe, was er getan habe. Seine Zurechnungsfähigkeit war ihnen zufolge nicht beeinträchtigt.

Der Massenmörder Anders Behring Breivik betrachtet es als Beleidigung, dass ihn manche Experten für unzurechnungsfähig halten. (Foto: AFP)

Mit anderen Worten: Breivik war sich bewusst, dass er ein schreckliches Verbrechen beging, und es ist unwahrscheinlich, dass er zum Beispiel Stimmen in seinem Kopf folgte, die ihn aufforderten, Menschen zu töten. Demnach wäre er also nicht verrückt, sondern: böse.

Wird das Ergebnis des Gutachtens Nummer 1 akzeptiert, so kommt Breivik in die Psychiatrie. Das ist es, was die Staatsanwaltschaft in Oslo derzeit fordert. Folgt das Gericht jedoch dem Gutachten Nummer 2, droht dem Angeklagten eine lange Haftstrafe.

Der Täter selbst zeigte sich äußerst zufrieden über das zweite Gutachten. Er dürfte die Hoffnung daran knüpfen, dass seine Vorstellungen, als "Ritter" gegen eine "Islamisierung" Norwegens zu kämpfen, ernster genommen werden, als wenn sie als die Ausgeburten eines kranken Geistes eingeschätzt würden. Seine Verteidiger wollen nun belegen, dass seine Weltsicht die Folge einer realen Debatte ist - und sogar gewaltbereite Islamisten in den Zeugenstand rufen.

Doch wer sich mit dem mehr als 1000 Seiten dicken " Manifest" des Mörders beschäftigt hat, weiß, dass Breiviks Weltsicht mit der Realität wenig zu tun hat. Das Wenige beschränkt sich darauf, dass einige seiner Argumente für den Kampf gegen den Islam ihren Ursprung in der Debatte um die angebliche Gefahr einer Islamisierung Europas haben. Die Existenz gewaltbereiter Islamisten etwa lässt sich nicht bestreiten. Was Breivik jedoch daraus ableitet und was er sich über Ritterorden und einen bewaffneten Kampf zusammenspinnt, hat mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun. Das hatten die ersten Gutachter zu Recht festgestellt.

Doch Angehörige der Opfer und viele Politiker übten an dem ersten Gutachten Kritik. Schockiert waren sie vor allem über die Aussicht, dass der Mörder als Geisteskranker nicht ins Gefängnis müsste, sondern "nur" in die geschlossene Psychiatrie.

Der Unmut über das erste Gutachten gründet einerseits auf dem Bedürfnis nach Sühne und ausgleichender Gerechtigkeit, andererseits auf der Sorge, rechtsextremer Terror würde nicht ernst genug genommen, wenn ein offensichtlich ideologisch motivierter Massenmörder einer Haft entgeht. Und schließlich, so kritisierten einige Psychiater, dürfe politischer Extremismus nicht einfach gleichgesetzt werden mit Geisteskrankheit.

Doch die Kritik geht ins Leere. Wenn ein geistesgestörter Straftäter in die Psychiatrie eingewiesen wird, ist das zwar keine Strafe oder "Buße" wie eine Haft es sein soll. Doch solange ein solcher Verbrecher weggeschlossen wird, wäre er für die Gesellschaft keine Gefahr, egal, ob es sich nun um ein Gefängnis oder eine Psychiatrie handelt. Und in beiden Fällen würde dem Täter die Freiheit entzogen - der Verbrecher käme auch in der Psychiatrie nicht einfach davon.

Wer fordert, der Täter müsse büßen, sollte sich fragen, was eine solche Buße bringen soll, wenn sie nichts mit Einsicht zu tun hat. In der Psychiatrie ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter begreift, was er getan hat und es bereut, immer noch höher als in einem Gefängnis, wo sein Hass auf die Gesellschaft möglicherweise noch wächst.

Die Forderung, politischer Extremismus dürfe nicht mit Geisteskrankheit gleichgesetzt werden, ist berechtigt. Zugleich darf ein ideologisch verbrämter Wahn nicht mit politischem Extremismus gleichgesetzt werden. Der äußert sich auf vielerlei Weise, nicht nur durch Gewalt.

Eine große Gefahr für unsere zivilisierten Gesellschaften besteht derzeit darin, dass rechtsextreme Behauptungen wie jene, Europa würde von Islamisten erobert, von immer mehr Bürgern geglaubt und von Parteien übernommen werden - solche Entwicklungen können Demokratien von innen aushöhlen.

Welchen Wert es für die Auseinandersetzung mit dem rechten Terror haben soll, sich auf eine Diskussion um die Wahnideen dieses Mannes einzulassen, ist da schwer zu verstehen. Nimmt man Breiviks Behauptungen ernst und versucht sein bizarres Weltbild etwa durch die Hinweise auf einzelne Islamisten zu unterstützen, leistet man den rechten Extremisten einen Dienst. Und dass einige von Breiviks Vorstellungen sich in deren Kreisen wiederfinden, darf nicht unterschlagen werden - im Gegenteil. Das ist aber kein Beleg dafür, dass Breivik geistig gesund ist. Selbst die Gutachter, die ihm Zurechnungsfähigkeit unterstellen, haben bei ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und einen Mangel an Empathie diagnostiziert.

Der Streit zwischen den Gutachtern weist aber auf ein grundsätzliches Problem in der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit von Straftätern hin, wie es auch in Deutschland existiert. In die Psychiatrie können nur Verbrecher eingewiesen werden, die als vermindert schuldfähig oder schuldunfähig beurteilt werden. Als schuldunfähig gilt, wer nicht weiß, was Unrecht ist, oder der im Augenblick der Tat nicht in der Lage ist, nach diesem Wissen zu handeln. Das trifft dem Urteil der Psychiater Agnar Aspaas und Terje Tørrissen zufolge bei Breivik nicht zu. Ihr Gutachten - es ist Nummer 2 - kommt zu dem Schluss, Breivik habe kein gestörtes Urteilsvermögen und sei demnach strafrechtlich zurechnungsfähig.

Was aber ist, wenn Breivik weiß, was in der Gesellschaft als Recht und Unrecht gilt, er sich selbst aber eben aufgrund seines Wahns nicht für einen Vertreter der "Bösen" hält, sondern für einen der Größten unter den "Guten"? Wenn er sich für jemanden hält, der besser als die Gesellschaft weiß, was richtig und was falsch ist, und sich in seinem Wahn berufen fühlt, seine Ziele mit brutaler Gewalt durchzusetzen?

Wer ist überhaupt schuldunfähig?

Ein Ziel verfolgen zu können, beweist nicht, dass man nicht wahnsinnig ist. Es kann sein, dass der Wahn andere Teile der Persönlichkeit betrifft als jene, die dafür sorgen, dass man wahnsinnige Pläne umzusetzen in der Lage ist.

Und ist es abwegig, dass ein Geisteskranker im Prinzip weiß, was die Gesellschaft für Recht und Unrecht hält, er dies aber eben aufgrund seiner Krankheit nicht zu berücksichtigen in der Lage ist?

Anders Behring Breivik könnte als Fall in die Geschichte der Justiz eingehen, der demonstriert, dass das Wissen darum, was Unrecht ist und die Fähigkeit, gezielt vorzugehen, noch keine ausreichenden Argumente sind, um einem Straftäter für zurechnungsfähig zu halten. Die Entscheidung darüber liegt nun beim Gericht in Oslo.

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