Für viele der Terroropfer kam die Nachricht wie ein Schock: Anders Behring Breivik, der Attentäter von Oslo und Utøya, muss für seine Taten möglicherweise nicht im Gefängnis büßen. Das ist das Ergebnis des rechtspsychiatrischen Gutachtens, das am Dienstag in Oslo vorgelegt wurde. Dem 32-Jährigen wird dort attestiert, dass er zum Zeitpunkt der Tat an paranoider Schizophrenie litt und damit als unzurechnungsfähig gelten muss.
Folgt das Gericht dieser Einschätzung, kann Breivik im kommenden Jahr nicht zu Haft verurteilt werden. Stattdessen stünde dem geständigen Massenmörder die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt bevor.
Die beiden Rechtspsychiater Torgeir Husby und Synne Sørheim haben in den vergangenen Monaten 13 Interviews mit Breivik geführt, insgesamt 35 Stunden sprachen sie mit dem Täter. Ihre Erkenntnisse haben sie in einem mehr als 230 Seiten umfassenden Bericht zusammengetragen - dem längsten psychiatrischen Gutachten der norwegischen Rechtsgeschichte. "Es war viel Arbeit", sagte Husby am Dienstag. "Aber an der Schlussfolgerung gibt es keine Zweifel." Beide Gutachter seien sich einig gewesen.
Breivik litt demnach während der Tat und auch während der Gespräche mit Husby und Sørheim an einer schweren Psychose. Ich bin enttäuscht", sagte Sondre Lindhagen Nilssen, ein 17-jähriger Überlebender von Utøya, unmittelbar nach der Bekanntgabe des Ergebnisses. "So wie er sich verhalten hat, wirkte er nicht unzurechnungsfähig auf mich." Nilssen war neulich zum Haftprüfungstermin bei Gericht. "Er weiß, was er getan hat", sagte der Jugendliche der Zeitung Aftenposten. Auch Experten sind überrascht: Es ist selten, dass Straftäter in Norwegen für unzurechnungsfähig erklärt werden - nur jedes fünfte Gutachten fällt so aus. Breivik hatte bei seinen Auftritten stets einen gefassten Eindruck gemacht. Er wirkte berechnend, seine Anschläge hatte er über Jahre vorbereitet. Darum gingen die meisten Beobachter davon aus, dass er voll schuldfähig ist.
Die Entwicklung des Massenmörders
In seinem unmittelbar vor den Morden im Internet veröffentlichten Pamphlet beschreibt Breivik sich selbst als "psychisch extrem stabilen" erfolgreichen Mann aus bürgerlichem Hause. Was inzwischen über ihn bekannt ist, deutet allerdings darauf hin, dass zumindest Teile dieser Selbstdarstellung rosiger sind, als es der Wahrheit entspricht. Breivik wuchs in einer kaputten Familie auf. Seine Eltern trennten sich kurz nach seiner Geburt, er wurde früh ein Fall für die Sozialbehörden. Als er vier Jahre alt war, empfahl ein Psychologe, den Jungen umgehend in einem Heim unterzubringen - zu Hause drohe er Schaden zu nehmen. Nachbarn hatten zuvor Alarm geschlagen, weil bei Breiviks laut gestritten wurde und Anders und seine sechs Jahre ältere Schwester oft alleine waren. Der Vater, der mit seiner zweiten Frau in Frankreich lebte, versuchte damals, sich das Sorgerecht zu erstreiten - und scheiterte.
Die Behörden unternahmen nicht viel: Breivik wurde kurz bei einer Pflegefamilie untergebracht, kam aber bald wieder zurück zur Mutter. Bei ihr wuchs er in den reichen Vororten im Westen Oslos auf, allerdings in den einfachen Verhältnissen einer kleinen Mietwohnung. In der Schule war er damit ein Außenseiter. Mitschüler, die von norwegischen Medien befragt wurden, beschreiben ihn als zurückgezogen. Erst mit 15 Jahren veränderte er sich: Breivik begann mit Krafttraining, interessierte sich für Hip-Hop. Später träumte er von einer Wirtschaftskarriere. Er wollte reich werden und besuchte das Handelsgymnasium, machte dort aber trotz guter Noten nie einen Abschluss.
Mit 17 Jahren trat er dann in die Jugendorganisation der rechtspopulistischen Fortschrittspartei ein. Hier kamen seine politischen Ansichten erstmals zum Vorschein, insbesondere sein Islam-Hass. Breivik war selbst den Rechtspopulisten zu radikal. Nach drei Jahren trat er wieder aus der Partei aus. In Erzählungen von ehemaligen Bekannten erscheint er meist als jemand, der dazugehören wollte - aber es nie schaffte. Gestört wirkte er nicht auf seine Mitmenschen. Seine Steuererklärungen zeugen indes von Geldproblemen. Die letzten Jahre vor der Tat wohnte er wieder bei seiner Mutter und verbrachte Wochen in seinem alten Kinderzimmer mit Computerspielen. Vermutlich verlor er sich in dieser Zeit endgültig in seiner Fantasiewelt, in der zum selbst ernannten Tempelritter mutierte, zum Erlöser Norwegens. So sah er sich in seinem "Manifest".
Es ist dieses gestörte Selbstbild, dem die Rechtspsychiater nun großes Gewicht beimessen. Größen- und Verfolgungswahn sind Symptome von Schizophrenie. Breivik leide unter "bizarren Wahnvorstellungen", sagte Staatsanwalt Svein Holden am Dienstag. "Danach kann er nach eigener Auffassung entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss." Die Krankheit habe sich über längere Zeit entwickelt.
Für den Strafprozess hat das zunächst kaum Auswirkungen, er soll wie geplant am 16. April 2012 starten. Am Ende wird das Gericht über die Zurechnungsfähigkeit Breiviks entscheiden. Vor dem Prozess wird das Gutachten noch von einer Expertenkommission überprüft. Sollte die Einschätzung der Rechtspsychiater in beiden Fällen Bestand haben, wird Breivik wohl in einer geschlossene Anstalt landen. Vermutlich für sehr lange Zeit, möglicherweise für immer, denn dem Gutachten zufolge ist er eine Gefahr. Für andere und für sich selbst.